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Zum Reformationstag: Ein Land, in dem ich Leben will

Musik: Luxuslärm: Soll das etwa alles sein?

Autorin:

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Sie hören jetzt die Morgenfeier zum Reformationstag. In den nächsten gut zwanzig Minuten will ich mir an Martin Luther ein Beispiel nehmen. Allerdings stelle ich Ihnen nicht wie er 95 schlaue Thesen vor, sondern nur eine. Meine These heißt: Humanitas semper mutantur. Das ist Latein, wie bei Martin Luthers Thesen. Auf Deutsch bedeutet das: Die Menschheit verändert sich immer wieder. Im Moment passiert vieles gleichzeitig auf dieser Welt. Ich möchte mich deshalb dem Thema Gerechtigkeit widmen und Sie, liebe Hörerinnen und Hörer in meine Gedanken mitnehmen. Bleiben Sie also dran!

Sprecher: Menschen leben in Armut. 2021 war es in Deutschland jeder Fünfte. 2022 wird es schlimmer werden. Und gleichzeitig werden viele Reiche immer reicher…

Soll das etwa alles sein? Zusehen wie andere leben? Für Träume von anderen leben?

Autorin:

Ich sage: Nein. Es ist Zeit, dass wir hinsehen, wo es weh tut und uns füreinander stark machen. Jeder fünfte Mensch in Deutschland war im letzten Jahr von Armut betroffen. Quer durch die Bevölkerung. Seniorinnen, Kinder und Jugendliche, Hartz-IV-Empfängerinnen, Rentner, aber eben auch Menschen, die mitten im Leben stehen und zwei oder sogar drei Jobs haben, um irgendwie über die Runden zu kommen.

Ich selbst bin auch noch aufgewachsen mit dem Spruch „Über Geld spricht man nicht.“ Dabei ist es höchste Zeit, über Geld zu sprechen. Ich will nicht mehr wegsehen oder stumm bleiben, nur weil ich – glücklicherweise – nicht betroffen bin. Natürlich ist es unbequem Armut anzusprechen. Aber dem Kind einen Namen zu geben, gibt eben auch Klarheit über die Sache selbst. Und die Sache ist: viel zu viele Menschen in Deutschland sind von Armut betroffen. Ich will, dass sich das ändert. Ich will, dass wir als Gesellschaft sozialer werden, dass wir Menschen uns gegenseitig unterstützen, statt nur auf uns selbst zu sehen. Nicht nur, wenn es um Armut geht. Humanitas semper mutantur. Die Menschheit verändert sich immer wieder.

Sprecher:

Der deutsche Liedermacher, Musikkabarettist und Schauspieler Bodo Wartke hat 2017 ein ganzes Lied seinen politischen Wünschen gewidmet. Sie hören jetzt Ausschnitte aus dem Lied: „Das Land, in dem ich leben will.“

Musik: Bodo Wartke: Das Land, in dem ich leben will ab 0’21 hochziehen und bis ca. 1’18 spielen, dann Musik ganz runterziehen.

Autorin:

Bodo Wartke will nicht nur in einem Land leben, im dem es finanziell gerechter zugeht. Er fordert soziale Gerechtigkeit. Er singt davon, dass es egal sein soll, ob jemand schwul, lesbisch, bisexuell, trans, intersexuell oder queer ist. Weder Hautfarbe noch Herkunft sollen darüber bestimmen, wie jemand behandelt wird, sondern ausschließlich wie sich ein Mensch benimmt.

Sprecher:
Davon sind wir trotz aller Bemühungen noch weit entfernt. 2020 wurde die bisher größte Befragung von Menschen durch geführt, die schwarz, afrikanisch oder afrodiasporisch sind. Das bedeutet afrikanische Wurzeln haben, aber zum Beispiel in Deutschland aufgewachsen sind, also keinen direkten Bezug zu Afrika haben. Die Befragung heißt Afrozensus 2020. Einige Schlaglichter daraus:

 Fast 60% der Befragten gaben an, schon einmal ohne Grund von der Polizei kontrolliert zu werden. Nachweislich werden häufiger nicht-weiße Menschen von der Polizei kontrolliert oder sogar festgehalten. Man nennt das auch Racial Profiling.

  • 90% der Befragten geben an, dass ihnen nicht geglaubt wird, wenn sie Rassismus ansprechen. Schon ein starkes Stück, dass weiße Menschen eine Sprache benutzen, die andere verletzt und dann auch noch Betroffenen absprechen, verletzt zu sein…
  • Vor allem bei der Wohnungssuche erleben mehr als 70% der People of Color Diskriminierung. Schwarze Menschen haben auf dem Wohnungsmarkt richtig schlechte Karten. Sie müssen wesentlich länger suchen als weiße und sich bei unzähligen Wohnungen bewerben, bis sie endlich eine Zusage bekommen.

Autorin:

Nochmal prägnant gesagt: Es gibt vieles in Deutschland, das ungerecht ist. Etwas gegen die Benachteiligung und Diskriminierung von Minderheiten zu tun, steht auf meiner Liste deshalb ganz oben. Ich setze mich dafür ein, dass sich etwas tut. Am Anfang steht für mich dabei immer, dass ich meine Gedanken und meine Sprache hinterfrage.

Sprecher:

Humanitas semper mutantur. Die Menschheit verändert sich immer wieder.

Musik: Bodo Wartke: Das Land, in dem ich leben will 1’36-3’55

Autorin:

Seit Wochen und Monaten sehen wir in den Nachrichten und auf Social Media, wie Menschen an anderen Orten auf der Welt schikaniert werden. Menschen erzählen ihre Geschichten, wie sie gefoltert oder aus welchen Gründen sie inhaftiert worden sind. So teilt etwa die Menschenrechtsaktivistin und Journalistin Düzen Tekkal die Geschichten von Frauen im Iran, die verhaftet, verschleppt oder getötet wurden. Wir sehen auf den Social Media Kanälen und im Fernsehen, wie das iranische Regime die Proteste der Menschen zu verschleiern versucht. Oder wie die russische Propaganda-Maschinerie die Tatsachen über den Kriegsverlauf in der Ukraine verdreht. Doch egal, wo wir hinsehen: überall auf der Welt werden die Forderungen nach Menschenrechten, nach Gerechtigkeit immer lauter.

Sprecher:

Immer öfter teilen Menschen in den Sozialen Netzen ihre persönlichen Geschichten. Von Gewalterfahrungen. Von Armut. Von Rassismus, Sexismus.

Autorin:

Menschen erzählen davon, dass sie wegen ihrer Behinderung ausgegrenzt werden. Sie teilen zum Beispiel auf Instagram die Forderung nach Mindestlohn. Denn aktuell werden Menschen mit Behinderung ausgebeutet. Anders kann ich den Lohn von 240€ im Monat in einer Behindertenwerkstatt nicht bezeichnen. Davon berichtet zum Beispiel Raúl Krauthausen auf seinem Account.

Sprecher:

In den persönlichen Geschichten geht es oft um Gewalt. Um die Schläge und Tritte, die der eine eingesteckt hat, oder wie jemand anders beleidigt oder sogar bedroht wurde. Frauen, die berichten, wie sie erniedrigt wurden.

Autorin:

Im Land, in dem Bodo Wartke leben will, kann jeder Mensch seine Meinung frei äußern. Ohne Angst, dass er oder sie unter mysteriösen Umständen verschwindet. In Deutschland ist im Grundgesetz verankert, dass jeder und jede seine Meinung frei äußern kann. Ganz anders im Iran. Dort legt der Staat das Internet lahm. Wer seine kritische Meinung äußert, hat eine Zielscheibe auf der Stirn.

Sprecher:

Es gibt leider viele in Deutschland, die das Recht auf freie Meinungsäußerung falsch verstehen. Nur weil du alles sagen darfst, heißt das nicht, dass es keine Konsequenzen nach sich zieht.

Musik: Bodo Wartke: Das Land, in dem ich leben will 3’56-5’03

Autorin:

Ich möchte in einem Land leben, das viel in Bildung investiert. Wie viele andere aus meiner Generation, hinterfrage ich unser gesellschaftliches System. … und wenn es nach mir geht, bleibt es eben nicht beim Hinterfragen, sondern ich wünsche mir ganz praktische Veränderungen. Damit mein Dorf, mein Land, die ganze Welt ein gerechterer Ort für alle wird.

Sprecher:

Veränderungen beginnen mit einem Gedanken und jemandem, der danach lebt.

Mit jemandem, der durch sein Verhalten andere zum Nachdenken zwingt. Und damit kleine oder sogar große Aufstände anzettelt. So wie Martin Luther, Nelson Mandela, Greta Thunberg, um mal drei zu nennen.

Autorin:

Der Sänger Sam Ryder hat in seinem Lied „Tiny Riot“ das Gefühl beschrieben, wie es ist etwas verändern zu wollen. Der erste Schritt zu einem kleinen Aufstand, also dem „Tiny Riot“, der klingt bei ihm so:

Sprecher:

Wenn Schmetterlinge mit Ihren Flügeln den Wind in einen Orkan verwandeln können

Dann können du und ich die Ketten sprengen,

es dauert einen Tag

 Einen kleinen Aufstand anzufangen

Hör auf so verdammt leise zu sein

Du hast einen Funken im Herzen?

Dann lass ihn überspringen

Wasch deinen Schmerz weg

Verwandele den strömenden Regen in eine Flutwelle und reite sie

Du hast etwas in dir, versteck’ es nicht

So wie angezündetes Dynamit

Wasch deinen Schmerz weg

Verwandel’ den strömenden Regen in eine Welle von einem kleinen Aufstand

Musik: Sam Ryder „Tiny Riot“

Sprecher:

Wenn Schmetterlinge mit Ihren Flügeln den Wind in einen Orkan verwandeln können

Dann können du und ich die Ketten sprengen,

es dauert einen Tag

 Einen kleinen Aufstand anzufangen

Hör auf so verdammt leise zu sein

Du hast einen Funken im Herzen?

Dann lass ihn überspringen

Autorin:

Aus meiner Erfahrung kann ich sagen: Veränderungen brauchen manchmal Zeit. Und das ist nervenaufreibend. Aber es ist wie bei dem Schmetterlingseffekt, den Sam Ryder in seinem Lied anspricht. Ein kleiner Windhauch löst manchmal ziemlich viel aus. Rosa Parks zum Beispiel. Mitte der 50er Jahre hat sie für großen Aufruhr gesorgt, weil sie als schwarze nicht ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen räumen wollte. Damals herrschte in Amerika die sogenannte Rassentrennung. Für Weiße und Schwarze gab es getrennte Toiletten, Bereiche im Bus oder unterschiedliche Aufzüge. Rosa Parks machte den Anfang. Einfach weil sie nicht den Rest der Fahrt stehen wollte. Und sie hat die Konsequenzen getragen. Sie wurde wegen Störung der öffentlichen Ruhe festgenommen und musste Strafe und Gerichtskosten zahlen. Ihr Mut, dieser kleine Aufstand. Das war der Anfang vom Ende der Rassentrennung.

Sprecher:

Die Menschheit verändert sich immer wieder. Durch Einzelne, die ihre Gedanken und Worte in die Welt bringen und vorleben, was sie predigen. Es beginnt mit einer veränderten Sprache, die gesellschaftliche Veränderungen sichtbar macht. Es gilt, Menschen sprachlich einzubeziehen und eben nicht vermeintlich „mitzumeinen“.

Autorin:

Für mich ist das nur die halbe Miete. Ich denke, es geht immer noch viel zu oft um Luxusprobleme. Eine veränderte Sprache und die kritische Auseinandersetzung miteinander müssen dazu führen, die Existenzen von anderen Menschen zu schützen. Laut werden gegen Armut und Ausbeutung. Klare Kante gegen Rassismus zeigen. Sexismus den Kampf ansagen. Diskriminierung ansprechen und aufstehen gegen den neuen Faschismus. Den Klimawandel so schnell einschränken wie möglich.

Humanitas sempter mutantur. Die Menschheit verändert sich immer wieder. Diese Welt wird nur eine bessere werden, wenn Sie und ich uns stark machen für Gerechtigkeit. In vielen verschiedenen Formen und mit unterschiedlichen Gesichtern.

Sprecher:

Es gibt da ein Lied, das hat einen ziemlich starken Text. Der geht so:

Hast du dich heute schon geärgert?

War es heute wieder schlimm?

Hast du dich wieder gefragt, warum kein Mensch was unternimmt?

Du musst nicht akzeptieren, was dir überhaupt nicht passt, wenn du deinen Kopf nicht nur zum Tragen einer Mütze hast

Autorin:

Die Band, die das Lied singt, die will uns zum Denken und Machen anregen. Sie sagen, dass es wichtig ist, dass Sie, liebe Zuhörer*innen und auch ich, uns einsetzen für Veränderung. Klar macht Veränderung Angst. War damals bei der Reformation nicht anders und ist auch heute noch so. Die Krux ist: es bleibt sowieso nichts wie es ist, also lassen Sie uns gemeinsam anpacken. Für mehr Gerechtigkeit. Hier bei uns. Zuhause, im Umkreis, im Land. Veränderung beginnt bei Gedanken und Sprache. Veränderung zeigt sich im Handeln. Auch in Ihrem.

Musik: TIL – Deine Schuld (Die Ärzte)