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„Zu Schafen seiner Weide“

Rechts und links am Rand der Straße ruhen kleine Berge aus Wolle, die ich vorsichtig um­fahre. Manchmal reflektieren Augenpaare schon in der Ferne das schwache Licht meiner Schein­werfer. Dann muss ich bremsen. Denn hin und wieder steht eines der Tiere auf und trottet gleich vor mir in aller Ruhe auf die andere Straßenseite. Ich bin unter Schafen! Mit­ten in der Nacht. Unterwegs in Irland.

Das Hausschaf: „Es begreift und lernt nichts. […] Seine Furchtsamkeit ist lächerlich, seine Feigheit erbärmlich.“ Vernichtend hat einst der Zoologe Alfred Brehm über das Schaf geur­teilt. Lange ist es her. Aber leider liegt ‚Brehms Thierleben‘ immer noch auf der Linie vieler Re­dewendungen. „Du Schafskopf!“, „dummes Schaf“, folgst dem „Herdentrieb“, bist „lamm­fromm“. Zahllose Metaphern und Vergleiche betonen die Überlegenheit des Men­schen zum Tier beziehungsweise die Abwertung des mit dem Schaf verglichenen Mitmen­schen, seine Arglosigkeit, seine Abhän­gigkeit.

Armes Schaf! In Jahrtausenden wurdest du zu dem Wesen gemacht, das der Mensch leicht halten und verwerten kann. Du bist süß, friedlich und genügsam, um genau dafür ge­ringge­schätzt zu werden. Du bist umarmt, du bist geopfert worden. Mensch und Schaf le­ben eine interessante, eine schwierige Beziehung, voller Identifikation und Abgrenzung.

Dazu gehört wohl auch das Bild, das die Bibel vom Schaf zeichnet: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts man­geln“ heißt es in Psalm 23. Und Jesus sagt von sich: „Der gute Hirte“ „lässt sein Leben für die Schafe.“ Als Chris­tus, das Lamm Gottes, trägt er schließlich selbst die Sünde der Welt.

Ach Schaf, du Opfer! Spiegelt sich in deiner Rolle am Ende auch die Krise des biblischen Menschenbildes? Gott hat uns gemacht, und nicht wir selbst, „zu Schafen seiner Weide“, heißt es im Psalm 100. Nur, wer will das?

Von Schafen und Menschen anders denken. Vielleicht lernt man es in Irland, wo die Schafe in der Mehrheit sind. Vielleicht lernt man so wie ich in diesem Som­mer. Bei dem Versuch auf engen Straßen schnell von A nach B zu kommen entwickelt sich sehr bald ein neues, ein zu­rückhaltenderes Verhältnis zu Schafen und auch zum Vorsatz überhaupt, schnell von A nach B kommen zu müssen. Ja, vielleicht ein neues Verhältnis zum Urteilen an sich.

Auf den kargen Höhen im Westen der Insel grasen die meisten Schafe ohne Hecke oder Zaun. Und sie machen auch auf Nationalstraßen nicht einfach so mal Platz, nur weil man es eilig hat. Nachts schlafen sie gerne auf dem warmen Asphalt. Wer ein Schaf anfährt, ist schuldig, ganz gleich, ob das Schaf von links gekommen oder völlig unvermittelt auf die Fahrbahn gesprungen ist.

Diese Regel verschiebt das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Das Schaf ist hier der Maß­stab, nicht der Mensch. Das Schaf diktiert, wann es ihm zu begeg­nen gedenkt. Es bremst ihn ein in seinem Vorwärtsdrang und lässt ihn gewähren, wenn es will.

Nachts auf irischen Straßen ist mir die Einsicht gewachsen, dass es keinen Sinn ergibt, ei­nem Schaf menschliche Interessen na­hezubringen, ihm menschliche Maßstäbe anzulegen. Ob ich ein Schaf als dumm verachte, ob ich es als lieb und süß umarmen oder mich ob sei­ner Arg­losigkeit distanzieren möchte, das alles bleiben menschliche Annäherungsversuche, die das Mitgeschöpf völlig unberührt lassen. Jedes Urteil fällt hier auf den Urteilenden zu­rück. Brehm hätte sich besser hüten sollen!

Und während ich mit Schrittempo der Herde folge, denke ich, Gott will mir vielleicht ge­rade erläutern, dass wir beide, Schaf und Mensch, höchst begrenzt und ei­gentlich nur staunend vor dem anderen Wesen stehen kön­nen, dessen Ziele und Hoffnun­gen wir nicht kennen, und um dessen Lebenssinn zu wissen wir ihm über­lassen müs­sen. Gemeinsam, als Schafe seiner Weide.