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Wir

Ich hätte nicht gedacht, dass ich das nochmal tun würde: feiern bis zum Morgen. Ich war nicht einmal betrunken. Wir haben nur geredet und gelacht. Eine milde Herbst­nacht lang unter freiem Himmel. Die Uhr am Kirchturm blieb für eine Stunde ste­hen. Ist es drei Uhr oder zwei? Egal! Das Wiedersehen zählt. Das alte und das neue ‚Wir‘.

‚Wir‘, das war vor vierzig Jahren meine Pfadfindergruppe. 25 Mäd­chen und Jungen und ein eigenes Jugendzentrum. Heute undenkbar: die lokale Eisenbahngesellschaft hatte uns ein leerstehendes Bahnhofsgebäude mitten im Ort zur Verfügung gestellt. Einfach so, „für drei Jahre“, hieß es damals, „bis zum Abriss“. Und wir waren einge­laden, diesen Bahnhof nach unseren Vorstellungen aus- und umzubauen: Gruppen­räume, Übernachtungsmöglichkeiten, ein Jugendcafé für sonntags nach der Kirche. So sind wir miteinander groß geworden, bis die Wege auseinander gingen. Damals ist uns nicht bewusst gewesen: wir waren Kirche.

Was verbindet Menschen? Welche Formen der Gemeinschaft brauchen sie? Gerade hat sich eine ARD-Themenwoche mit der Frage nach dem „Wir“ beschäftigt. Jede Generation muss sie neu beantworten. Vielleicht heute mehr denn je. Und auch die Kirchen sind gefragt, welch‘ ein „Wir“ sie in Zukunft sein wollen.

Ich bin Schulpfarrer. Ich sehe, dass meine Schülerinnen und Schüler ihre Freizeit fast schon so gestalten, wie sie Dinge einkaufen: ganz auf die eigene Person zugeschnit­ten. Verabredungen entste­hen kurzfristig. Man wählt das beste Angebot für den Abend aus, trifft sich, erlebt etwas und geht wieder auseinander. Es ist eine Art Markt für die geteilte Zeit.

Das macht mich manchmal ratlos, weil ich anders aufgewachsen bin. Die Er­fahrun­gen, die ich in einer starken Gemeinschaft über Jahre ma­chen durfte, haben mich geprägt und viele meiner Lebensentscheidungen beein­flusst. Dass ich Pfarrer ge­worden bin, ganz direkt.

Doch auf der Basis fester Gruppen hat die Gemeinde- und Jugendarbeit schon lange kaum noch funktioniert. Die Pandemie gab diesem Bild von Kirche den Rest. Was kommt danach? Oder ist das „Wir sind Kirche Christi“ ganz am Ende?

Ich höre und lese oft, die Kirchen müssten neu auf die Menschen zugehen. Kurzfris­tigere Projekte, niedrigschwellige Angebote. Da mag etwas dran sein. Wer sich nicht für lange festlegen mag, ist vielleicht bereit, nur für ein paar Wochen mitzumachen und dann wieder eine Pause einzulegen.

Doch ich stolpere über das Wort „Angebot“. Es klingt einladend. Aber schafft es nicht auch ein Gegenüber? Einen Unterschied von Anbietenden und Kunden? Von Kirche-Ma­chenden und Kirche-Konsumierenden? Wie soll da ein „Wir“ draus wer­den? Und wie passt das zur Botschaft von Jesus Christus?

Jesus hat einst an seinen Tisch geladen, er tut das heute noch. Macht er dabei ein Angebot? Ich denke, Jesus lädt ein! Diese Einladung ist aber ganz anders als die An­gebote, die wir kennen. Denn sie verändert und verbindet Menschen, schafft ein neues „Wir“, schon in dem Moment, in dem sie angenommen wird. Da kann nie­mand einfach Kunde bleiben. Ich fürchte, Kirche als Anbieter zu denken, führt in ein großes Missverständnis. ‚Wir‘ sind seine Kirche, oder Kirche ist gar nicht.

Und das heißt auf der anderen Seite auch, dass die, die sich Kirche nennen, selbst eingeladen sind, ein neues und vielleicht ganz anderes „Wir“ zu werden.

So wie wir in jener Nacht vor drei Wochen an unserem Bahnhof. Ja, es gibt ihn heute noch! Bis vor ein paar Jahren immer noch als Jugendzentrum. Weil jetzt die Bagger tatsächlich anrücken, haben wir uns wiedergetroffen und unser „Wir“ gefei­ert – mit einem Dankgebet im Freien und mit dieser wunderbaren Herbstnacht. Für manche von uns war es nach Jahren der Distanz, das erste Kirche-Sein seit Langem. Wenn man so will, ein neues ‚Wir‘.