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Wie der Gott der Bibel tickt

Ein Rollenspiel im Religionsunterricht. Wie fühlt es sich an, einen Moment mit den Augen Gottes zu betrachten? Die Schülerin schaut nach rechts zu ihrem Klassenkameraden. Sie schaut nach links und sieht einen zweiten Mitschüler. Sie will sich beiden zuwenden, aber das geht nicht, weil die beiden zu weit auseinander stehen. Unschlüssig verharrt die Schülerin in der Mitte. Sie fühlt sich überfordert, ratlos und zerrissen.

Die Szene spielt in einer Stunde zum Gottesbild der Bibel. Genauer: Wie erzählt Jesus von seinem Vater? Keine einfache Aufgabe für Jugendliche, die sich erst einmal darauf einlassen müssen, dass es überhaupt einen Gott geben könnte. Und dann auch noch anhand von zweitausend Jahre alten Geschichten. Zum Beispiel am Gleichnis vom verlorenen Sohn.

Jesus erzählt von einem Vater, dessen jüngerer Sohn sein Erbe durchgebracht hat und nun nach Jahren verarmt und gedemütigt heimkehrt, in der Hoffnung, der Vater werde ihm irgendeinen Hilfsarbeiter-Job anbieten.

Doch als der Vater den Sohn erblickt, rennt er ihm entgegen. Trotz allem schließt er ihn in seine Arme, küsst ihn. Dann lässt er ihm neue Kleider bringen und das gemästete Kalb schlachten für eine große Wiedersehensfeier.

Der Vater hat aber noch einen zweiten Sohn, der alle Jahre stets treu im elterlichen Betrieb gedient hat. Der muss nun mitansehen, wie sein Vater dem nichtsnutzigen Heimkehrer einen großen Bahnhof bereitet. Wütend auf den Vater stellt er ihn zur Rede, wieso dem Jüngeren das teure Kalb geschlachtet wird, während ihm nie auch nur ein Bock überlassen wurde, um mit seinen Freunden eine Party zu feiern.

Eigentlich ist die alte Geschichte ein Herzstück der Bibel, aber den meisten Jugendlichen heute unbekannt. Nicht schlimm. Das Gleichnis bleibt ihnen zwar erst einmal seltsam fremd, aber das ändert sich schnell, als sie selbst in eine der drei Rollen schlüpfen: Jüngerer Sohn, älterer Sohn und Vater. Die Aufgabe ist einfach: Stellt euch den Moment vor, als der Vater zwischen beiden Söhnen vermitteln muss. Stellt diesen Augenblick als eingefrorene Theaterszene dar, als Standbild. Ihr braucht keine Bewegung und auch keine Worte, nur eure eigenen Blicke und Gesten.

Die zwei Schüler in den Rollen der Söhne finden ihre Haltung schnell: der jüngere kniet sich nieder, der ältere hebt den Arm. Aber welche Haltung passt zum Vater? Die Schülerin in der Vaterrolle schaut den jüngeren Sohn an und weist dabei zwangsläufig dem älteren die kalte Schulter zu. Aber umgekehrt wäre es genauso. Sie kann nicht beiden Söhnen gleich gerecht werden und das zerreißt sie schier.

Der Klasse ist längst klar geworden: Es geht um Gottes Gerechtigkeit. Im Vater beschreibt Jesus eigentlich Gott, der sich Menschen, die ihn wiederentdecken, gleichermaßen zuwendet, wie Menschen, die ihr ganzes Leben an ihn glauben.

Nur – anders als die überforderte Schülerin – schafft es Gott, beiden gerecht zu werden. Ihm gelingt der Spagat zwischen Barmherzig-Sein und Gerecht-Bleiben.

„Mein Sohn“, sagt der Vater zum Älteren: „Du bist allezeit bei mir, und was mir gehört, das ist auch Dein. Aber dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden. Sei fröhlich mit uns!“

Mit diesen Worten im Ohr gelingt der Schülerin plötzlich eine Geste. Sie nimmt ihre beiden Mitschüler und führt sie so eng zusammen, dass sie nun beide zugleich anschauen kann.

Da ist sie, die Lösung für den uralten Menschheitskonflikt: Liebe, Versöhnung! Und plötzlich scheint Gott selbst für einen Augenblick anwesend. Über alle Zweifel und Jahrtausende hinweg wird er lebendig. In diesem Augenblick liegen Entdeckung, Erleichterung und Trost. Und eine Ahnung, wie der Gott der Bibel tickt.