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Wenn ich sage „Israel“

An einem Abend im Oktober stehe ich auf dem Saarbrücker Landwehrplatz. Ich demonst­riere für Israel. Der Überfall der Hamas ist erst ein paar Tage her. In diesem Moment habe ich das ganze Ausmaß des Schreckens noch nicht erfasst. Vielleicht kann man das auch gar nicht.

Ich sehe mich um und erkenne Freunde und Bekannte. Jemand kommt auf mich zu und gibt mir eine weiß-blaue Fahne, die Flagge Israels. Ich binde sie mir an die Jacke. Es fühlt sich richtig an. So gehen wir schweigend durch Saarbrücken.

Nachher laufe ich zurück zu meinem Wagen, vorbei an Döner-Läden und Shisha-Bars. Ich spüre, wie die Fahne an meiner Jacke Blicke auf sich zieht. Ich habe keine Angst. Aber mein Ge­fühl hat sich verändert. Ein blauer Davidsstern bedeutet in den Augen derer, die mich anschauen, etwas anderes, als ich mit ihm sagen will. Und Israel heißt für sie Palästina.

Der Nah-Ost-Konflikt ist kompliziert. Je mehr ich über ihn lerne, desto schwieriger wird es, die Dinge zu sortieren. Ich würde gerne schweigen. Aber wer schweigt, überlässt das Reden denen, die gar nicht sortieren. Wer in diesen Tagen redet, ohne zu sortieren, der redet fahr­lässig.

Darum: Wen und was meine ich, wenn ich die weiß-blaue Fahne nehme und sage: „Israel“?

Israel, das ist eine Figur aus der Bibel. Eines Nachts kämpft er mit einem Fremden, kann nicht siegen und besteht doch.‘ Jisra-El‘. Eine Übersetzung sagt: der mit Gott ringt. Mit Gott ringen und ihn gerade da­rin lieben – ein Sinnbild für die Geschichte Israels.

Denn „Israel“ bezeichnet auch die Menschen, die sich seither auf diesen Stammvater bezie­hen. Das Volk Israel zieht aus der Sklaverei ins versprochene Land. Schließt den Bund mit Gott. Es betet mit den Worten der Psalmen, die auch meinen Gebeten ihre Sprache schen­ken. Denn Jesus Christus gehörte zum Volk Israel.

Zu diesem Volk Israel zählen sich bis heute Jüdinnen und Juden weltweit, ob nun in Afrika, Europa oder in den USA, ob in Fernost oder im Staat Israel. Sie sind streng religiös oder nur fromm, einfach traditionell oder gar nicht gläubig. Sie sind bunt, verstehen sich als kul­tu­relle, religiöse oder ethnische Größe, als Freuden- und als Leidensgemeinschaft mit allen erdenklichen Formen der Nähe und Distanz zu sich selbst. Aber mehr noch:

Israel war einst ein antiker Staat, der vor etwa 3100 Jahren unter einem Kö­nig mit Namen David entstand, bald zerbrach und unterging. Israel ist heute ein 1948 gegründeter demo­kratischer Staat, der sich als Heimat für Menschen aus dem Volk Israel versteht. Diesem Staat Israel rechnen sich aber auch 20% nichtjüdische, meist ara­bische, Staatsangehörige zu.

Das Wort Israel beschreibt mitunter verkürzend auch die Regierungspolitik dieses Staates. Eine Politik, die mich tief befremdet und die mir wenig Hoffnung macht auf einen gerechten Frieden. Das würde ich denen gerne sagen, die mich im Vorbeigehen anschauen.

Und was meine ich, wenn ich ganz persönlich sage „Israel“?

Ich meine die Bilder in mir von wunderschönen Landschaften, die im Frühling bunt blühen und im Spätsommer alle Wüstenfarben zeigen. Ich meine die Menschen, die mich vor fast vierzig Jahren in ihr Haus aufnahmen, um ein Jahr mit ihnen zu leben. Als deutscher Aus­tausch-Schüler in Israel, trotz allem, was gewesen war. Für diese Menschen trage ich die weiß-blaue Fahne an meiner Jacke, auch wenn ich ahne, dass ich missverstanden werde.

Es ist so kompliziert, aber schweigen hilft nicht. Wer Israel sagt, muss unterscheiden und wissen, was er meint. Und muss bedenken, dass auch alle nicht gemeinten Bedeutungen im­mer mitschwingen.