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Wenn das Gestern Heute wird

Neulich hat mir mein vierjähriger Sohn zum Geburtstag gratuliert. Das wäre nicht so bemer­kenswert, wäre mein Sohn nicht inzwischen zweiundzwanzig. Seine Stimme ist längst er­wachsen geworden.

Wie sie als Kinderstimme klang, das – so dachte ich – sei vergangen, verklungen, verloren. Bis ich vor ein paar Tagen beim Aufräumen ein altes Geschenk in die Hand bekam. So einen Waggon für die Modelleisenbahnbahn. Einen Kühlwagen, ausgestattet mit Speicherchip, Mikrofon und Lautsprecher. Als ich ihn vor bald achtzehn Jahren zum Geburtstag bekom­men habe, konnte man ein paar Sekunden Tonaufnahme festhalten und auf Knopfdruck wieder abspielen. Klar, die dazu nötigen Batterien hatte ich schon lange ausgebaut, damit sie nicht auslaufen. Und ebenso klar bin ich davon ausgegangen, dass mit der fehlenden Batteriespannung auch längst gelöscht ist, was einst an Tönen konser­viert wurde. Oder viel­leicht doch nicht?

Schnell zwei Knopfzellen eingebaut und… Eine mir vertraute Kinderstimme sagte: „Herzli­chen Glückwunsch zum Geburtstag.“ Ich war selig! Tatsächlich hatte der Kühlwagen die Worte meines Sohnes über all die Jahre frisch gehalten, als wäre nicht beinahe sein ganzes Leben darüber hinweggegangen. Wunderbar!

Mein Staunen darüber, wie Speicherchips auch ohne Spannung ihre Information bewahren – geschenkt. Vielmehr war ich von diesen vier Worten berührt. Wer da sprach und wie er es sagte, traf mich direkt ins Herz: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“. Für einen Mo­ment war’s, als fielen jener Geburtstag und diese Sekunde plötzlich ineinander. Als umarm­ten sie achtzehn gemeinsame Jahre und zeigten dem Leben seinen Sinn auf. Unerwartete Liebe. Mitten im Alltag ein besonderer Moment.

Heute vor 144 Jahren erhielt der amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison das Patent für seinen Phonographen – die erste erfolgreiche Maschine zur Tonaufzeichnung. Seitdem kön­nen wir Worte der Vergan­genheit frisch aufbewahren. Fast zeitgleich entstand auch die Fo­tografie. Heute sind Ton- und Bildaufnahmen so selbstverständlich – wir denken kaum dar­über nach. Mein Handy hält tausende Aufnahmen in seinen Chips. Die meisten werde ich nie wieder betrachten. Viele Eltern dokumentieren jeden Schritt ihrer Kinder in unzähli­gen Fotos und Videos. Nur – wie oft werden sie sie anschauen oder anhören? Nicht je­der ver­gangene Augenblick hat die Kraft, wieder zum besonderen Moment zu werden. Nicht jedes gestrige Wort bewegt noch heute.

So wie uns im gegenwärtigen Leben aus der Flut der Wörter nur ganz wenige aufhorchen lassen, so wie nur wenige den Fluss des Alltags unterbre­chen und uns im Herzen berühren, so ist es auch mit Worten der Vergangenheit.

Ein Wort aus der Vergangenheit muss überraschend, unerwartet sein. Zugleich muss es pas­send für den Augenblick das Herz ansprechen. Es muss die Zeit, seitdem es ausgesprochen wurde, mühelos überbrücken können und von dem, was gestern ‚heute‘ war, so erzählen, dass das Gestern plötzlich Teil des Heute wird. Ein Wort aus der Vergangenheit, das mich tröstet, stärkt und mir dabei hilft, dem Leben auf die Spur zu kommen, ist kostbare Gegen­wart, unerwartete Liebe. Wie im Geburtstagsgruß meines Sohnes.

Ich finde es nicht schlimm, dass nur die allerwenigsten Worte vergangener Tage diese Kraft in sich tragen. Das macht sie kostbar. Umso faszinierender aber, wie manche Worte der Bi­bel diese Kraft haben, obwohl man sie lange kennt, und ganz ohne Speicherchip oder Edi­sons Phonograph. Bibelworte klingen frisch, auch über Jahrtausende hindurch, wenn nur der richtige Mensch im richtigen Moment sie neu mir sagt. Wenn mir zum Beispiel eine Freundin oder ein Freund neu in Erinnerung ruft: „Du bist das Licht der Welt. Fürchte dich nicht.“ Dann kann ich selig sein für einen Augenblick. Unerwartete Liebe – sie macht, dass aus dem Gestern ein neues Heute wird, ganz wie im Gruß meines vierjährigen Sohnes: „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.“