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Vorurteile

„Das ist mir früher nicht aufgefallen“, sagt meine Mutter. Sie meint die Essmanieren meines Vaters. Meine Mutter ist damit nicht die Einzige, der nach vielen Ehejahren etwas auffällt, über das sie immer hinweggesehen hat. Wenn wir Menschen mögen, begegnen wir ihnen mit einem Vorurteil, wir erwarten Gutes von ihnen.

Dieses Phänomen gibt es allerdings auch andersrum. Meine Tante zum Beispiel berichtet, dass die junge Frau in der Wohnung neben ihr regelmäßig nachts saugt. Davon werde sie geweckt. „Die Jugend wird immer schlimmer“, stellt sie fest. „Die Jugend“ bringt sie mit Rücksichtlosigkeit in Verbindung. Jeder Zeitungsartikel über jugendliche Zerstörungswut bestätigt sie in ihrem Denken.

Im Alltag kommen wir ohne Vorurteile nicht aus. Sie erleichtern uns die Entscheidungen. Viele Vorurteile sind auch harmlos. Aber manche entwickeln eine zerstörerische Kraft: Sie ordnen in Schubladen ein und verstellen uns so den Blick auf die Wahrheit. der einzelne Mensch zählt nicht mehr. Schon als Kind habe ich mich gefragt, weshalb Menschen zum Beispiel wegen ihrer Hautfarbe oder Religion verfolgt oder ermordet werden. Und wie wir es schaffen können, unsere Vorurteile zu hinterfragen.

Von Jesus wird berichtet, dass er mit Vorurteilen bricht. Er fragt die Menschen, was sie von ihm wollen. Zum Beispiel einen Gelähmten. „Naja, was wird der schon wollen“, denken wir uns. „Er möchte bestimmt wieder gehen können.“ Aber gefehlt. Der Gelähmte will, dass ihm vergeben wird. Offenbar trägt er eine schwere Last. Da mag das Gehen-Können zweitrangig sein.

Was wir von Jesus lernen können, ist hinsehen und hinhören. Er nimmt jeden Menschen als einzigartig wahr. Meiner Tante habe ich geraten, die junge Frau anzusprechen. Und tatsächlich: Sie habe gar nicht gewusst, dass die Wohnung so hellhörig sei und hat sich entschuldigt.

Lassen wir uns doch also in unserem Alltag öfter überraschen. Fragen wir nach, sehen hin und hören zu.