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Vorbildlicher Augenblick

Am ersten Dezember neunzehnhundertfünfundfünfzig steigt die Näherin Rosa Parks in den Cleveland-Avenue-Bus ihrer Heimatstadt Montgomery, Alabama. Sie ist Afroamerikanerin. Schon als Kind hat sie den täglichen Rassismus erlebt, wie er damals in den Vereinigten Staaten weit verbreitet ist. Während ihre weißen Klassenkameradinnen zur Schule gefahren wurden, musste sie laufen.

Als neue Fahrgäste in ihren Bus steigen, soll Rosa Parks aufstehen. Der Fahrer fordert sie auf, Platz zu machen, damit die neuen, weißen, Fahrgäste in einer Reihe ohne farbige Passagiere sitzen können. Rosa Parks weigert sich und wird von der Polizei verhaftet. Was dann passiert, soll in die Geschichte der Verei­nigten Staaten eingehen und Rosa Parks zu einer Ikone der amerikanischen Bürgerrechtsbe­wegung machen.

Nur Stunden nach ihrer Verhaftung lässt ein junger Pastor aus Montgomery tausende Flug­blätter drucken. Sie rufen zum Boykott der Busse in der Stadt auf. Fünfundsiebzig Prozent der Passagiere sind Afroamerikaner und so bleiben die Busse am Tag der Gerichtsverhand­lung praktisch leer. Über ein Jahr wird der Busstreik dauern, bis das Bundesgericht in Washington Rosa Parks Recht gibt.

Der junge Pastor heißt Martin Luther King. In den kommenden Jahren wird er zehntau­sende Menschen für die Rechte der afroamerikanischen Bevölkerung auf die Straße bringen und den friedlichen Weg zur Überwindung der rassistischen Trennung in den USA eb­nen.

Rosa Parks hat es allerdings fortan schwer, wieder eine Arbeitsstelle zu bekommen. 1957 zieht sie entnervt vom Telefonterror nach Detroit um. Später lässt sie Anwälte gegen die unautorisierte künstlerische Verwendung ihrer Geschichte vorgehen, während eine Nichte diesen Anwälten vorwirft, nur Profit aus Rosa Parks Vermächtnis schlagen zu wollen. Rosa Parks stirbt 2005. Ihre Biografie erzählt von dem hohen Preis dafür, die Welt bewegt zu haben.

Unser Leben besteht aus unzähligen alltäglichen Augenblicken. Und dann passiert es, dass ein einziger Moment, ein Wort, eine Tat plötzlich über uns hinausweist. Ein Augenblick, der so wahr und klar und richtig ist, dass er nicht nur unser eigenes Leben in seinen Bann zieht, sondern Menschen dazu bewegt, eine Wahrheit zu erkennen und die Welt zu verändern.

Greta Thunberg mit ihrem Pappschild vor dem Parlament in Stockholm. Martin Luther beim Verfassen von 95 Thesen. Pater Maximilian Kolbe im Konzentrationslager Auschwitz-Bir­kenau, als er sich anstelle eines Mithäftlings in den Hungerbunker sperren lässt. Die Saar­brückerin Katharine Weisgerber, die verwundete Soldaten vom Schlachtfeld bei Spichern rettet. Ein Augenblick genügt, das Richtige zu tun.

Heißt das nicht aber auch: zu einem vorbildlichen Augen­blick gehört nicht zwingend eine lupenreine Biografie.

Rosa Parks ist zum Vorbild für Zivilcourage ge­worden. Aber ihr Leben verlief nicht nur vorbildlich. Martin Luther King predigte den gewaltlosen Widerstand, und provozierte zugleich Bilder der Gewalt gegen Wehrlose als politisches Mittel. Martin Luther hat den christlichen Glauben reformiert. Aber er hat auch Antisemitismus verbreitet. Greta Thunberg hält Atomkraftwerke für ein gutes Mittel gegen die Klimakrise.

Wir sind nur Menschen und das Leben bleibt zweideutig und vielschichtig. Vielleicht sollten wir nicht die Menschen als Vorbilder ehren, sondern den vorbildlichen Augenblick. Vielleicht sollten wir den guten Geist loben, der sie das Richtige tun ließ. Dann könnten wir auch barmherziger mit den Schattenseiten ihrer Biografien umgehen.

Oder anders gesagt: Würde Jesus darauf verzichten, von dem Augenblick der Barmherzigkeit zu erzählen, als der Samariter den Verwundeten verbindet, wenn er wüsste, dass dieser Samariter selbst einmal ein Räuber gewesen ist? Wer weiß?