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Versuch zu trauern

Er ist kein Theologe, sondern Karikaturist. Der 60-jährige Essener Thomas Plaßmann zeichnet für Tageszeitungen und kirchliche Zeitschriften. Er beschreibt sich selbst als „Gemeindemit­glied“. Weil Plaßmann kein Theologe ist, muss seine Arbeit auch nicht allen theologischen Einwänden standhalten können. Ende Oktober war er so entsetzt von der neuesten Studie über das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in der römisch-katholischen Kirche Frank­reichs, dass er dazu aufforderte, als Zeichen der Scham und Trauer Kreuze in Kirchen mit einem schwarzen Tuch zu verhüllen. „Vielleicht bis zum Advent“, wie er schrieb.

Plaßmanns Heimatbistum Essen äußerte sich verhalten und anscheinend sind nur wenige Pfarreien seinem Vorschlag gefolgt. Verhüllung des Kreuzes? Ein schwieriges Symbol. Denn dieser Brauch gehört eigentlich in die Karwoche. Allenfalls im Advent und nicht da­vor hätte eine Kreuzverhüllung liturgisch ihren Platz, denn der Advent wurde einst als Zeit der Ein­kehr und des Fastens begangen.

Aber hier geht es nicht um theologische Richtigkeit. Thomas Plaßmann versucht zu trauern. Und er hat dazu eingeladen, öffentlich mitzutrauern über das, was geschehen ist.

Junge Erwachsene, Jugendliche – zumeist aber Kinder – sind von denjenigen, denen sie an­vertraut waren, in ihrer Seele schwer verletzt und nicht selten zerbrochen worden. Zerbro­chen in ihrem Vertrauen gegenüber dem Mitmenschen, von dem sie Begleitung erhofften. Zerbrochen in ihrem Vertrauen in die Liebe selbst. Ihre Klagen wurden überhört, während man den Tätern half, das Verbrechen zu vertuschen. Viele blieben ihr Leben lang traumati­siert. Und all dies ist geschehen unter dem Dach der Kirche Jesu Christi, nicht nur der römi­schen. Es ist auch in meiner evangelischen Kirche geschehen, und wie ich heute weiß, vor über dreißig Jahren auch in meiner Nähe. Das bedrückt mich.

Die neu gewählte Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Anette Kur­schus, sagt, sie will das Thema Missbrauch zur Chefinnensache machen. Wie aber kann eine öffentliche kirchliche Auseinandersetzung mit diesem Verbrechen aussehen? Einem Verbre­chen, das kirchliches Handeln und Reden grundlegend infrage stellt, weil in diesem Verbrechen das Wort von der Liebe pervertiert worden ist, und damit nichts weniger als die Kernbotschaft Jesu Christi.

Sicher, vieles ist schon getan worden, von Anlaufstellen für die Opfer bis zu Präventionskon­zepten für die Zukunft. Aber fehlt nicht bis heute weitgehend das, was Thomas Plaßmann anstoßen will? Der Versuch, als Kirche zu trauern?

Trauern als Kirche, dabei geht es nicht um Zuschreibung oder Zurückweisung von Schuld, es geht nicht um ein Erklären der Systemfaktoren, die den Missbrauch möglich gemacht haben und auch nicht um die Unterscheidung von Konfessionen. Sondern es geht um den Aus­druck des Entsetzens und der Scham für das, was im Namen Jesu Christi geschehen konnte, ob ganz nah oder fern von mir. Es geht um die Berührung mit dem Leid und um die Bitte um Vergebung. Der Versuch zu trauern ist ein Lebenszeichen der Kirche. Und damit wird er zur Gemeinschaftsaufgabe aller, denen die Botschaft Christi am Herzen liegt. Er kann in Gebe­ten, Liedern oder Gottesdiensten zum Ausdruck kommen, oder mit den Mitteln der bilden­den Kunst.

Das Verhüllen von Kreuzen mit schwarzen Tüchern mag ein schwieriges Symbol bleiben. Aber wie Thomas Plaßmann sehne ich mich nach einer Kirche, die angesichts des Unfassbaren ihre Fähigkeit zu trauern findet – auch in diesem Advent – um die Weihnachtsbotschaft von der Liebe Christi, die in der Mitte einer oftmals erschreckenden Welt erschien, einst wieder glaub­würdig bezeugen zu können.