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Versöhnung und Vergebung

Als ich die krebskranke Frau Lorenz kurz vor ihrem Tod besucht habe, hat sie erzählt: Sie habe alles geregelt und sich von allen verabschiedet. Aber eine Sache lasse sie nicht los: Seit vielen Jahren habe sie keinen Kontakt mehr zu ihrem Bruder. So unversöhnt wolle sie nicht gehen. Sie habe jetzt beschlossen, ihrem Bruder einen Brief zu schreiben. Ob sie ihn wirklich abschicken werde, wisse sie aber noch nicht.

Ich musste an Frau Lorenz denken, als ich das Buch „Versöhnung und Vergebung“ von Monika Renz gelesen habe. Es ist im September dieses Jahres erschienen. Die Psychologin, Theologin und Musiktherapeutin Monika Renz arbeitet und forscht im Bereich Sterben und Spiritualität. In ihrer jüngsten Studie hat sie festgestellt, dass bei Menschen in Todesnähe sehr häufig ein Drängen nach Versöhnung erwacht: Familienkonflikte, die Last einer Verfehlung oder ein jahrelanges Schweigen treiben sie um.

Monika Renz hat mehrere Phasen bei den Patientinnen und Patienten beobachtet: Am Anfang steht die Vermeidung. Man will mit einem Konflikt, mit einem Menschen, nichts mehr zu tun haben. Sterbenden jedoch gelingt es oft nicht mehr zu verdrängen. Es kommt zur Krise: Sie fühlen sich unversöhnt mit dem anderen, mit sich selbst, dem Schicksal, mit Gott. Damit ein Versöhnungsprozess in Gang kommen kann, braucht es meist eine von außen kommende Motivation. Monika Renz spricht von Hoffnungserfahrungen.

Das kann die Erfahrung sein, dass da endlich einer ist, der mich versteht und würdigt. Es kann ein neuer Kontakt zu den eigenen Gefühlen sein und die Erfahrung, dass etwas ins Fließen kommt. Es kann ein wichtiges Gespräch, ein Geschenk, eine Geste sein. Und es können zum Beispiel Träume, ein Gebet oder Ritual sein. Hoffnungserfahrungen ermöglichen die erste Entscheidung zur Versöhnung oder führen sogar direkt in die Versöhnung hinein.

Oft kann man sich mit einem Menschen persönlich nicht mehr versöhnen. Wie geht das dann, ins Leere hinein? Monika Renz betont die Bedeutung des Dritten. Das Dritte kann ein Freund, ein Seelsorger, eine Therapeutin und letztlich auch Gott sein. Ein Verbündeter also, der über die Hürde hilft. Versöhnung kann so zur Befreiung werden.

Die Arbeiten von Monika Renz unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von anderen Forschungen zur Versöhnung: Sie sagt, dass Menschen auf Gnade verwiesen seien. Es brauche eine Wandlung in der Tiefe der Seele, und die könnten Menschen nicht selbst „machen“.

Ich verfolge seit Jahren die Arbeit von Monika Renz und entdecke in ihren Büchern ungewöhnliche, ja einzigartige Perspektiven. Sie tastet sich im Grenzbereich zwischen Leben und Sterben an die großen Fragen heran und eröffnet dabei neue Einsichten, die für die Lesenden selbst zu Hoffnungserfahrungen werden können.

Frau Lorenz, der die ausstehende Versöhnung auf der Seele lastete, hat den Brief an ihren Bruder abgeschickt. Kurz vor ihrem Tod haben die beiden miteinander telefoniert. Bei ihrer Beerdigung saß er in der ersten Reihe.