Beiträge

Vergeben und Vergessen

Heute, an Silvester, geht der Blick noch einmal zurück über das hinter uns liegende Jahr. Dabei ist die Erinnerung an das, was wir behalten wollen, was uns wichtig war, was uns gut getan hat, ebenso wichtig wie das Vergessen dessen, was uns weh getan hat, was uns belastet.

Manche Menschen können nicht vergessen. Manchmal bewundere ich das. Zum Beispiel wenn sie Namen und Gesichter in Erinnerung behalten, die bei mir selbst nur noch Fragezeichen auslösen. Manchmal stört es mich aber auch. Unter anderem dann, wenn sie unterschiedslos Wichtiges und Unwichtiges, Peinliches und Erfreuliches noch lange Zeit danach bis ins kleinste Detail wiedergeben können – einfach weil bei ihnen kein Gras drüber wächst. Ich weiß nicht, ob Menschen, die nicht vergessen können, in der Lage sind, zu vergeben. Das Sprichwort sagt zwar: „Vergeben ja, aber nicht vergessen!“ Doch: Geht das? Vielleicht. Aber ich bezweifle das. Weil zum Vergeben gehört: „Abstand gewinnen“. Aber Nichtvergessen-Können verhindert diesen Abstand.

Im Buch des Propheten Jesaja stellt Gott eine neue Schöpfung in Aussicht. Eines ihrer Kennzeichen ist, dass man durch sie die alte vergessen kann: „Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird“ (65, 17).

Vergessen ist also nicht nur ein Verlust, und Vergessen können hat etwas Befreiendes an sich. Es macht Neues möglich. Vergessen können ist wie die Kreidetafeln in der Schule: Auf ihnen kann und muss man Altes auswischen, um Neues schreiben zu können.