Unfall

Eben standen wir noch im Stau, aber nun läuft es wieder einigermaßen. Wir kommen wohl doch nicht zu spät zu unserem Familientreffen. Der Verkehr hat sich weitgehend normalisiert. Ohne Gefahr kann ich auf die Mittelspur wechseln, um die Lastwagen vor mir zu überholen. Doch mit einem Mal stockt es auf der Spur links neben mir. Im Augenwinkel nehme ich ein Auto wahr. Viel zu schnell, der schafft es doch nicht mehr zu bremsen! Und da passiert es schon. Er weicht aus, zieht auf unsere Seite und will sich zwischen den Spuren vorbeiquetschen. Es kracht. Unser Auto schüttelt es durch, wir spüren einen Ruck. Auf der anderen Seite quietscht es hässlich, irgendwas splittert. Als erstes steht der LKW, dann wir anderen. Insgesamt sind vier Fahrzeuge in den Unfall verwickelt. Nun stehen wir alle neben unseren Autos auf dem Pannenstreifen. Der Unfallverursacher wirkt ziemlich bedröppelt. Doch außer Blechschaden ist zum Glück nichts passiert. Die Polizei kommt, nimmt den Unfall auf. Ich frage noch den Unfallverursacher, wie es ihm geht. Dann fahren wir weiter.
Hier könnte die Geschichte zu Ende sein. Aber für mich war es der Anfang einer Woche wie unter einer Dunstglocke. Äußerlich geht alles irgendwie mechanisch ab. Doch in meinem Kopf wechselt es immer hin und her zwischen Leere und sich kreisenden Gedanken. Tage geht das so. Ich schlafe schlecht. Schock nennt sich das. Gefühle werden reduziert auf das Wesentliche. Es ist eine Schutzfunktion von uns Menschen. Doch schön ist das nicht.
Eine Woche später bin ich wieder unterwegs. Diesmal mit unseren Konfirmandinnen und Konfirmanden. Es ist ein intensives Wochenende. Die jungen Menschen suchen sich ihre Konfirmationssprüche aus. Sie sind bewegt von Freude, Spaß und großem Ernst. Für mich ist es anstrengend, mir steckt der Unfall noch in den Knochen.
Am Sonntag feiern wir gemeinsam Abendmahl. In unserem improvisierten Gottesdienst ist eine sehr intensive Stimmung. Und als wir uns gegenseitig Brot und Traubensaft reichen, passiert etwas mit mir. Nicht nur im Kopf, sondern jetzt wird es mir auch im Herzen klar: „Du hattest einen heftigen Unfall, bei dem keiner auch nur einen Kratzer abbekommen hat!“ Mir wird deutlich: Da bist du beschützt worden. Und ich freue mich wieder richtig, dass ich am Leben bin und diesen wunderbaren Gottesdienst erleben kann. Ein großer Stein fällt mir vom Herzen.
Im Rückblick denke ich: So muss es nach Karfreitag den Leuten um Jesus gegangen sein. Der große Schock: Jesus ist tot. Die Bibel erzählt, dass zwei Freunde von Jesus nach seinem Tod in ihr Heimatdorf Emmaus zurückgehen. Ich denke, das lief auch alles nur mechanisch ab. So sehr, dass sie Jesus nicht einmal erkennen, als der plötzlich neben ihnen geht. Erst als sie am Abend miteinander essen, als Jesus den Brotfladen nimmt, ihn auseinanderbricht und ihnen gibt, und als er den Wein teilt. Erst da löst sich ihr Schock und sie können wieder frei atmen.
Heute kann ich die beiden noch besser verstehen. Denn auch für mich war das Abendmahl der Moment, in dem ich wieder frei atmen konnte. Einer meiner Konfirmanden gab mir Brot und Traubensaft: „Für dich gegeben!“ Mir kamen die Tränen und es wurde wieder leicht. So hat mich das Abendmahl und der Zuspruch eines jungen Menschen mehr als getröstet; es hat mich befreit. Solche Gesten und Rituale und vor allem der Zuspruch anderer – den braucht es im Leben.