Und Gott sah, dass es gut war
„Herr Kahlen, wenn Gott heute auf die Erde herabschaut. Glauben Sie, er wäre stolz auf seine Schöpfung?“ „Hm, Andrea, lass mich nachdenken. Was spräche denn dafür?“
So habe ich mir die erste Stunde nach der langen Schulschließung nicht vorgestellt. Meine sechste Klasse hat im Onlineunterricht gut mitgearbeitet. Geschichten vom Anfang – Schöpfungserzählungen. Sie haben selbst daheim gelesen: „Und Gott sah, dass es gut war.“ Aber eben nur allein haben sie sich den Text erschlossen, vereinzelt vor ihren Bildschirmen. Drum möchte ich den Neuanfang nutzen, buchstäblich, mit etwas Mutterboden, und dem Lied von Detlev Jöcker: „Eine Handvoll Erde, schau sie dir an. Gott sprach einst es werde, denke daran.“
Doch Andrea hat ihre eigene Wirklichkeit in Herz und Kopf, innere Bilder, Nachrichten, Bewertungen, die einfach raus müssen. „Glauben Sie, Gott wäre heute stolz auf seine Schöpfung?“
Und dann legt sie los. Andrea hat von Gewalttaten gelesen und deren Opfern, die vor Gericht gescheitert sind. Sie hat von Ungerechtigkeit gelesen, die keinen Menschen kümmert. Sie sah Bilder von verzweifelten Frauen unter der Macht ihrer Männer, sah Bilder von Armut, zerstörter Natur und immer wieder auch vom Tod. Zwischen ihren Worten höre ich Andrea fragen, wie ich als Pfarrer von Gottes guter Schöpfung reden könne, wenn die Wirklichkeit aus Angst, Not und Leid gemacht sei.
Zuerst bin ich berührt, erschrocken. Woher hat sie das? All die bedrückenden Bilder? Langsam begreife ich: Es ist der Shutdown, der aus Andrea spricht. Sie hat die Wochen ihrer Einsamkeit mit Nachrichten aus dem großen Netz gefüllt. Von Algorithmen gesteuert, die dazu geschaffen wurden, Andreas Aufmerksamkeit zu fesseln. Algorithmen, die der Erkenntnis folgen, dass den Menschen fesselt, was ihn besorgt. Doch das weiß Andrea nicht.
Am Ende ist sie wohl zu oft allein zurückgeblieben, schlaflos mitten in der Nacht mit ihrem Smartphone. Allein mit ihrem getrübten Blick auf unsere Welt und auf das Leben selbst. Worauf sollte Gott da noch stolz sein?
Die Psychologie hat vor langem schon herausgefunden, dass der Mensch Gefahren außerhalb der eigenen Handlungskreise häufig überschätzt, solche aber, die ihm näher sind, eher unterschätzt. Man könnte vereinfachend auch sagen: Unser Bild der Welt erscheint in der Nähe weit weniger dunkel und gefährlich. Ferne Risiken aber befeuern die Angst vor der schlimmen Welt da draußen. Das geht allen Menschen so und gilt auch losgelöst von ihrem Bildungsstand. Insofern sorgt sich Andrea sicher nicht allein.
Vielen Menschen ist in den vergangenen Monaten ein großes Stück vom Nahbereich des Lebens genommen worden. Abstand halten hatte Priorität. Kontaktvermeidung war das Gebot der Stunde, auch für Kinder und Jugendliche wie Andrea. Damit aber wurde ihnen auch ein Gegengewicht genommen, zu den Nachrichten aus aller Welt. Ein Gegengewicht, das sonst hilft, helle und dunkle Bilder des Lebens unter der Sonne auszubalancieren. Das Gegenwicht, es heißt Vertrauen.
Vertrauen habe ich im Nahbereich. Vertrauen geben mir die Menschen, die mein Leben mit mir teilen, Familie und Freundschaften. Und Selbstvertrauen habe ich, soweit mich meine Fähigkeiten tragen, als Gottes Ebenbild.
Und damit bin ich wieder bei der Schöpfungsgeschichte, denn Vertrauen ist tatsächlich auch das Erste und das Letzte, was diese Erzählung vom geordneten Anfang wecken will. Sie zeichnet das Bild einer guten, überschaubaren Welt. Einer Welt, die uns nahe kommen will, damit wir die Angst vor ihr verlieren. „Und Gott sah an, alles was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“, heißt es im ersten Kapitel der Bibel.
Von Stolz ist da gar nicht so sehr die Rede. Und das habe ich Andrea schließlich auch geantwortet: „Du, Andrea, sicher hätte Gott viele Gründe auf seine Schöpfung stolz zu sein, und wenn du dich bei den Menschen und Dingen umsiehst, die dir nahe sind, wirst du sie entdecken. Aber ich glaube, darum geht es nicht. Stolz ist doch eher etwas, das Menschen brauchen. Vielleicht braucht Gott keinen Stolz, weil er sich vor nichts und niemandem fürchten muss. Nichts ist ihm fremd, auch nicht das zweifellos vorhandene Dunkle in uns und um uns. Aber Gott ist sich, seiner Schöpfung und uns auch in dunklen Zeiten nahe. Weil er sich und uns vertraut, dass die Geschichte mit der Erde schon in Ordnung kommt, und am Ende gut ausgeht.“