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Thomas und der lauwarme Grauburgunder

Letztens hatte ich mal wieder so ein Gespräch. Kann sogar hier beim SR gewesen sein. Aber egal. Nee, es war so ein Stehempfang bei einer Ausstellungseröffnung, genau, da war das. Neben mir ein Mann, graumeliertes Haar, Mitte Vierzig, schätze ich, denselben lauwarmen Grauburgunder im Glas wie ich. Die Grußworte sind lang und langweilig. Naja. Wir beginnen an unserem Stehtisch leise ein Gespräch, er stellt sich als Abteilungsleiter in der städtischen Verwaltung vor und ich muss mich als Pfarrer outen. Nach einem erstaunten Blick und kurzer Pause, stellt er klar: „Also ich glaube nur, was ich sehe! Und was ich sehe, das lässt mich nicht glauben.“

Da ist es wieder, das ewige Thema: Religiöse, gläubige Menschen müssen an das Unsichtbare glauben. Und an das Gute. Im Menschen. Und an das Gute schlechthin, an Gott. Und der ist natürlich auch unsichtbar. Und wer das nicht kann – der gehört nicht dazu. Zur Gemeinschaft der Gläubigen.

Ja, ein ewiges Thema, vielleicht so alt wie die Menschheit. Und deshalb auch in der Bibel aufgegriffen. Dort wird berichtet, dass Jesus an ein Kreuz genagelt wurde, starb und begraben wurde. Nach drei Tagen sei er von den Toten auferstanden. Seine Jünger erzählen, dass sie gesehen hätten. Einer von ihnen war da nicht dabei, hat den von den Toten auferstandenen Jesus nicht gesehen: sein Jünger Thomas. Und dem kommen Zweifel: “Wenn ich nicht in seinen Händen die Wunden von den Nägeln sehe und meinen Finger in diese Wunden lege, kann ich’s nicht glauben!” sagt er.

Aber Thomas bekommt seine Chance. Eine Woche später ist Jesus wieder da und sagt zu ihm: „Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ Jesus würdigt die Zweifel des Thomas, nimmt sie ernst, lässt sich anfassen. Und Thomas glaubt.

Nein, ich muss nicht an das Unsichtbare glauben, um gläubig zu sein. So verstehe ich diese Geschichte aus der Anfangszeit der christlichen Gemeinschaft.

Und das hab ich dem Mann beim Stehempfang erzählt. Und ihm gesagt, dass ich auch nur an das glaube, was ich sehe. Was ich höre, was ich anfassen kann. Was meinen Sinnen zugänglich wird.

Die Grußworte und Reden über die Ausstellung sind zu Ende. Wir schweigen eine Weile. Dann fragt mich der Mann, wo er denn heute so wie Thomas mit seinen Sinnen etwas erfahren kann, sodass er glauben kann. Glauben kann, dass das Leben einen Sinn hat. Und nicht nur von Zufällen geprägt wird. Dass es einen Sinn macht, sich einzusetzen für Frieden, Freiheit, die Schöpfung, das Zusammenleben der Menschen. Und er rollt die ganzen, großen Themen vor mir aus, die einen zweifeln, ja verzweifeln oder mindestens resignieren lassen. All das Leid, der Krieg, die geschundene Erde. Der Hass und die Rücksichtslosigkeit. „Wo kann ich etwas anderes sehen? Wissen Sie es?“ fragt er mich. Und es klingt nicht aggressiv, sondern ein bisschen sehnsüchtig.

Jetzt schweige ich. Ja, wo.

„Nein, ich weiß es nicht. Aber manchmal entdecke ich es. Oder besser: es entdeckt mich. Ein kluger Mann, Ernst Barlach, hat mal gesagt: Gott verbirgt sich hinter allem, und in allem sind schmale Spalten, durch die er scheint – scheint und blitzt.

Ja, manchmal entdecke ich es. Immer, wenn ich es nicht suche. In einer Geste, die mich berührt, in einem Wort, das mich trifft, in einem Blick, der mich erkennt. In der Musik. In einem Bild. In unserem Gespräch vielleicht?“

Warum ich diese Geschichte erzählt habe? Morgen, am 3. Juli, ist der Tag des heiligen Thomas.