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„Talitha Kumi, Mädchen steh auf“

Am Eingang zu seinem Grundstück lese ich auf einem Stein: „Wir wei­gern uns, Feinde zu sein“. Unsere Reisegruppe besucht den Palästinenser Dahoud Nasser auf dem Hügel seiner Familie, nicht weit von Bethlehem entfernt. Zwischen Obstbäumen und Weinstöcken liegen noch viele weitere Steine mit den gleichen Worten auf Englisch, Arabisch und Hebräisch: „Wir weigern uns, Feinde zu sein.“

Dahoud – Familienvater, Anfang 50, Christ – stemmt sich seit fast 30 Jah­ren friedlich gegen die Enteignung seines Landes. Dahoud kann nachwei­sen, dass dieser Hügel im seit 1967 besetzten Westjordanland schon vor einhundert Jahren seinem Großvater gehörte. Und seine Familie will auch weiterhin dort Obst, Oliven und Wein ernten. So führt er seinen Prozess inzwischen vor dem höchsten Gericht des Staates Israel. Und er erzählt seine Geschichte:

„Wir dürfen hier keine neuen Gebäude errichten. Uns wird weder Wasser noch Strom geliefert. Siedler haben versucht uns einzuschüchtern. 2014 erschien die Armee mit einem Bulldozer und machte 100 alte Obstbäume dem Erdboden gleich. Aber den Blankoscheck, den man meiner Familie für unseren Hügel angeboten hat, den haben wir nicht eingelöst.

Wir wollen hier in Frieden leben, ohne Wut, ohne Vergeltung. Wir weigern uns, die Opferrolle zu spielen, und wir weigern uns, Feinde zu sein.“ Dahoud versteht es, seine Botschaft öffentlich zu machen. Rund 10000 Gäste aus vielen Ländern hat er in diesem Jahr schon bei sich empfangen.

Szenenwechsel: Ein paar Kilometer weiter führt uns Kadra Zekie durch die Gassen ihrer Stadt, zeigt uns neue Restaurants und Menschen, die sich im Tourismus eine Existenz aufbauen. Bethlehem ist Kadras Heimat, aber aufgewachsen ist sie in Deutschland. Heute arbeitet sie als Reiseführerin. Sie gehört, so wie Dahoud, zu dem einen Prozent der Christen in der Bevölkerung Palästinas. Auch sie erzählt von Repressalien. [Sie erzählt von ihrem Schmerz, als der Wald auf dem Hügel gegenüber von Bethlehem für eine weitere israelische Siedlung gerodet wurde.]

Aber ebenso wie Dahoud verzichtet sie auf jegliches Wort der Aggression. Sie hofft, dass ihre Kinder einst in der Lage sein werden, Frieden zu schlie­ßen mit den Kindern auf der anderen Seite der großen Mauer, die sich um ihre Stadt zieht. Kadras Kinder sind ihre Hoffnung, auch, weil sie eine besondere Schule besuchen. Es ist dieselbe Schule, in der Dahoud vor vierzig Jahren Deutsch gelernt hat. Dorthin nimmt uns Kadra mit.

„Talitha Kumi, Mädchen, steh‘ auf“, so spricht Jesus zu der Tochter eines Synagogenvorstehers am See Genezareth. Man hatte sie für tot gehalten. „Talitha Kumi“, und das Mädchen stand auf.

„Talitha Kumi“, so heißt auch die bekannte deutsche Auslandsschule in Beit Jala, dem Nachbarort von Bethlehem. Was vor einhundert Jahren als Mädcheninternat begann, ist heute eine Krippe, ein Kindergarten, eine Grund- und eine weiterführende Schule für über 800 Kinder. Muslime wie Christen, Reiche und Arme lernen hier gemeinsam.

Warum sollen palästinensische Kinder in einer deutschen, christlichen Schule unterrichtet werden? Das fragen wir Zaki Issa, den Chemielehrer. Und er bekommt strahlende Augen: „Weil die Werte, die die Kinder hier lernen, in unsere Gesellschaft hineinwirken. Sehen sie, wir Christen sind nicht viele. Aber es hat sich herumgesprochen, dass die Kinder, die hier zur Schule gehen, etwas Gutes lernen. Manche studieren nach dem Abitur in Deutschland. Einige kommen zurück. Andere bleiben hier und bauen sich etwas auf. Das gibt Hoffnung.“

Auf der Heimfahrt denke ich: „Talitha Kumi“ das passt. Gibt es eine bessere Beschreibung für Haltung dieser Menschen als das Jesuswort zur Auferweckung eines totgeglaubten Mädchens?