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„So ein schönes Lied“

„Papa, hör mal. So ein schönes Lied!“ Mein vier Jahre alter Sohn ist mal wieder früher wach als ich. Früh am Morgen steht er vor meinem Bett und weckt mich mit diesem Satz. Schlaftrunken denke ich: Was hat er gerade gesagt? „Sag das nochmal“, bitte ich ihn. Gesagt, getan. Und ich merke, dass ich ihn schon beim ersten Mal richtig verstanden hatte. Denn wieder sagt er: Papa, so ein schönes Lied.

Ich höre angestrengt ins Zimmer und das ganze Haus hinein. Hat meine Frau wieder mal in der Küche das Radio aufgedreht? Hmmm. Nein, nichts zu hören. Steht gegenüber auf der anderen Straßenseite vielleicht ein Auto vor der Metzgerei, mit offenem Fenster und laufendem Radio? Nein, auch nicht. „Was für ein Lied meinst Du denn“, frage ich meinen Sohn. “Die Vögel, Papa“, antwortet er. Ich lausche nochmal. Stimmt, denke ich. Die Vögel zwitschern. War mir irgendwie gar nicht so aufgefallen. Diese Töne sind halt normal für mich. Sie gehören dazu, sind nichts Besonderes. Für meinen Sohn dagegen sind sie echte Musiker. Sie singen so ein schönes Lied, wie er es ausdrückt.

Damit ist mein Sohn in guter Gesellschaft. Der evangelische Pfarrer Paul Gerhardt hat schon im 17. Jahrhundert über die Vögel gedichtet:

Die Lerche schwingt sich in die Luft,

das Täublein fliegt aus seiner Kluft

und macht sich in die Wälder;

die hochbegabte Nachtigall

ergötzt und füllt mit ihrem Schall

Berg, Hügel, Tal und Felder.

Was hatten Paul Gerhardt und mein Sohn, was ich nicht habe? Warum hören sie, wie wunderbare Vogelstimmen sind und ich nicht? Ich denke, die Antwort ist: Weil sie ein offenes Ohr hatten. Mein Sohn, weil er noch ein Kind ist. Und Paul Gerhardt, weil er sein Ohr bewusst geöffnet hat. Und Letzteres kann ich auch schaffen. Ich muss mich zwar sehr anstrengen dafür, weil wunderbare Vogelstimmen – oder generell alle schönen Geräusche und Töne – im Alltag so schnell übertönt werden: Vom Telefonklingeln, von Straßenlärm, von Stimmengewirr der Menschen um mich herum oder manchmal auch vom Geschrei meiner Söhne. Dann, wenn sie sich mal wieder zanken.

Umso dankbarer bin ich, dass gerade einer von den beiden mich wieder auf diesen wunderbaren Klang aufmerksam gemacht hat. Dafür werde ich in Zukunft versuchen, mein Ohr offen zu halten. Denn: Papa, das ist so ein schönes Lied.