Sie duldet alles
Ich schreibe an einer Hochzeitspredigt. Das Brautpaar hat sich seinen Trauspruch aus dem 1. Korintherbrief gewählt. Die Liebe, heißt es dort, „erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“ In Gedanken sehe ich das Brautpaar vor mir. Die beiden werden den Satz auf ihre Liebe zueinander beziehen. Sie wollen sich genau das sagen, was man spontan aus den Worten hört: „Ich will immer zu dir stehen. Ich bin bereit zu einer Geduld ohne Grenzen.“ Trausprüche haben ihren Zauber und ihr Recht. Aber was ist mit der Realität? Was lässt sich wirklich leisten? Liebes Brautpaar, soll eure Liebe wirklich alles dulden?
Ich denke an eigene Lebenserfahrungen, nicht nur in der Partnerschaft. Mir fallen Momente ein, in denen die, die mich lieben, eine Engelsgeduld mit mir haben mussten. Und umgekehrt sind auch die Grenzen meiner Geduld mehr als einmal ausgelotet worden. Die Realität lehrt mich, dass meine Geduld Grenzen hat, und die der Menschen um mich auch.
„Die Liebe duldet alles“, dieser Satz beschreibt ja keine Eigenschaft des Menschen, sondern eine Eigenschaft der Liebe. Und diese Liebe ist nichts weniger als das Wesen Gottes. Wenn Menschen Liebe spüren, wenn sie sie sich in jahrelanger Partnerschaft erarbeiten und um sie kämpfen, dann ist und bleibt sie doch immer nur ein Abglanz, ein Fragment der Liebe Gottes. Am Ende steht die Liebe immer noch in seiner Hand. Ja, die Liebe duldet alles. Die Liebe, und nicht der Mensch. Der Mensch kennt eben auch den Tropfen, der ein volles Fass zum Überlaufen bringt. Wenn Geduld und Liebe zweier Menschen füreinander endgültig ertrinken. Die Sekunde kurz davor nicht nur still zu erdulden, sondern deutlich anzusagen: „Meine Geduld endet“, kann Rettung sein im letzen Augenblick.
Nein, ich werde meinem Brautpaar seinen Trauspruch nicht verleiden. Er gilt ja…für Gottes Liebe. Woher käme auch sonst die Kraft für Vergebung oder einen Neuanfang? Aber gerade weil Gottes Liebe all unser Scheitern erduldet, darf unsere Geduld endlich sein.