Schwerer Mut

Musik 1: Heinz Rudolf Kunze, Der schwere Mut (4‘03“)
Wäre ich ein Dichter,
dann wählte ich das Schweigen.
Wäre ich ein Heiliger,
dann wählte ich die Welt.
Wie die Dinge liegen,
mache ich mir sanft zu eigen,
was hinter unsern Augen
langsam in die Asche fällt.
Wäre ich ein Tänzer,
dann wählte ich die Lähmung.
Wäre ich ein Sänger,
dann wählte ich den Schrei.
Bleiben von der Gegenwart
wird nichts als die Beschämung:
So ist es gewesen.
Ich war hemmungsvoll dabei.
Ich denke, also bin ich. Also gut.
Mein Lebensmittel ist der schwere Mut.
Bin ein Besserwisser,
habe Tricks, Tabus, Termine:
Aufgehobenes Opfer
auf der Schwelle zum Schaffot.
Irre durch die Wüsten als Beziehungs-Beduine.
Geh an meinem Wechsel auf die Ewigkeit
bankrott.
Hoffe jeden Glaubenssatz beizeiten zu verraten.
Suche und behaupte noch
die Möglichkeit von Glück.
Stopfe Schokoladenherzen in die Automaten.
Gebe, was ich geben kann.
Und nehme nichts zurück.
Ich pflanze einen Baum in meine Wut.
Mein Lebensmittel ist der schwere Mut.
Wäre ich ein Liebender,
dann suchte ich die Eine,
die sich an die eigne große Endlichkeit verhurt.
Wäre ich ein Embryo,
dann wählte ich totz allem
jetzt und auch in Zukunft
immer wieder die Geburt.
Ich pflanze einen Baum in meine Wut.
Mein Lebensmittel ist der schwere Mut.
Text (Britt Goedeking)
Ja, so könnte es gewesen sein mit der Reformation, deren Gedenken evangelische Christen und Christinnen heute feiern: schweren Mut als Lebensmittel. Guten Morgen Ihnen allen, liebe Hörerinnen und Hörer!
Manchmal überlege ich, ob Martin Luther und all die, die sich mit ihm nach Erneuerung der Kirche gesehnt haben, ebenfalls hofften, „jeden Glaubenssatz beizeiten zu verraten“. So heißt eine Textzeile im Lied „Der Schwere Mut“ von Heinz Rudolf Kunze, das Sie eben gehört haben.
Manchmal ist es wirklich die einzige Kraft, die durch die vollen Tage trägt: der schwere Mut! Schwermut – der schwere Mut: dieses Wortspiel lässt mich an diejenigen denken, die in unserer krisengeschüttelten Zeit schwermütig sind – Menschen jeden Alters und oft besonders die Empfindsamsten. Aber mir fallen auch Vorbilder ein, die bestimmt immer wieder den Mut ganz bewusst zusammenkratzen müssen, um genug dieses „Lebensmittels“ für ihre jeweilige Aufgabe zu haben: bekannte Kämpferinnen wie Kamala Harris oder Julija Nawalnaja. Überhaupt: die vielen Friedenssehnsüchtigen im Nahen Osten und unter uns. In der kirchlichen Tradition denke ich an Martin Luther im Mittelalter, in neuerer Zeit an Friedrich Schorlemmer und Dorothee Sölle, Christina Brudereck und viele unbekannte Frauen und Männer, die sich um Gerechtigkeit und Vielfalt, um Rettung von Schöpfung und Geschöpfen mühen. Auch um die Erneuerung der Kirche. Ich glaube, sie und noch viele andere brauchen den schweren Mut, von dem Heinz Rudolf Kunze singt.
Mich spricht in diesem Lied besonders das Bild vom Baum an, der in die Wut gepflanzt wird. Ein Baum in die Wut gepflanzt – mich erinnert das an Martin Luthers berühmt gewordenes Bild vom Apfelbäumchen, das sogar angesichts des Weltuntergangs gepflanzt werden sollte. Martin Luther war ein schnell aufbrausender Mann, das ist überliefert. Er brauchte sicher einen Baum für seine Wut.
Ich kenne auch die Versuchung, zu resignieren, aufzugeben. Gerade in diesen Zeiten. Deshalb lohnt es sich für mich, nachzudenken über eigene Motive, warum ich trotzdem weitermache, mich einsetze für Erneuerung, für Reformation oder sogar Revolution. Die schönsten Geschichten beginnen mit Mut, eben oft auch mit schwerem Mut. Und solche Geschichten stärken mich.
Musik 2: Tracy Chapman, Talkin‘ bout a Revolution (2‘39“)
Don’t you know
They’re talking about a revolution?
It sounds like a whisper
Don’t you know
Talking about a revolution?
It sounds like a whisper
While they’re standing in the welfare lines
Crying at the doorsteps of those armies of salvation
Wasting time in the unemployment lines
Sitting around waiting for a promotion
Don’t you know
Talking about a revolution?
It sounds like a whisper
Poor people gonna rise up
And get their share
Poor people gonna rise up
And take what’s theirs
Don’t you know you better run, run, run, run, run, run, Run, run, run, run, run, run
‘Cause finally the tables are starting to turn
Talkin’ ’bout a revolution
‘Cause finally the tables are starting to turn
Talkin’ ’bout a revolution, oh no
I’ve been standing in the welfare lines
Crying at the doorsteps of those armies of salvation
Wasting time in the unemployment lines
Sitting around waiting for a promotion
Don’t you know
Talking about a revolution?
It sounds like a whisper
And finally the tables are starting to turn
Talkin’ ’bout a revolution
Yes, finally the tables are starting to turn
Talkin’ ’bout a revolution, oh, no
Text (Britt Goedeking)
Manchmal fängt etwas Neues nicht laut und erst recht nicht mit Kriegsgeschrei oder Gewalt an, sondern es beginnt wie ein Wispern, das Menschen ansteckt. Mut ist nicht immer laut. Und der Glaube daran, dass Gott aus Mut etwas Neues, spürbar Liebevolles schaffen kann, kann auch ganz verschiedene Stimmlagen haben.
Dazu mutmachende Worte aus der Bibel, aus dem Brief an die Hebräer im 12. Kapitel:
Text (Jörg Metzinger)
Wir sind von einer großen Menge von Zeugen wie von einer Wolke umgeben. Darum lasst uns alle Last abwerfen, (besonders die Sünde, in die wir uns so leicht verstricken). Dann können wir mit Ausdauer in den Kampf ziehen, der vor uns liegt. Dabei wollen wir den Blick auf Jesus richten. Er ist uns im Glauben vorausgegangen und wird ihn auch zur Vollendung führen. Denn er hat sein Kreuz auf sich genommen und der Schande keine Beachtung geschenkt. Denkt doch nur daran, welche Anfeindungen er durch die Sünder ertragen hat. Dann werdet ihr nicht müde werden und nicht den Mut verlieren.
Text (Britt Goedeking)
Ich weiß, wie schwer das in diesen Tagen vielen fällt: den Mut nicht zu verlieren! Und da ist er wieder vor meinem inneren Auge: der Baum, der in die Wut gepflanzt wir, damit das „Lebensmittel Mut“ nicht unter Wut begraben wird. Solch begrabene, solch runtergeschluckte Wut nimmt mir die Ausdauer. Reformation kann doch bedeuten: lieber einen Baum in meine Wut zu pflanzen – als still zu ertragen. Oder allem Ärger, allem Frust, aller Endzeitstimmung zum Trotz ein Apfelbäumchen zu setzen. Mit dem zum Trotz gepflanzten Apfelbaum stellte Martin Luther die Ausdauer des Glaubens in schwierigen Zeiten dar, die sich schon damals nach Weltende anfühlten.
Allem Übel, oder wie es der Hebräerbrief sagt: aller Schande keine Beachtung schenken und trotzdem für Liebe, Gerechtigkeit und Wahrheit eintreten, darauf hoffen auch viele junge Menschen und machen sich gegenseitig Mut zum erneuernden Wandel.
Musik 3: Jonnes, Trotzdem (Hoffnungshysterie) (3‘05“)
Ich will den Zauber, die Hoffnungshysterie, meine Suche ist endlich, aber stehen bleib ich nie
Text (Britt Goedeking)
Menschen wie der Sänger Jonnes beziehen sich in ihrer Hoffnung auf Wandel nicht auf den christlichen Glauben. Aber sie beziehen die Kraft zu ihrem Trotzdem aus der Hoffnung darauf, dass es ganz anders sein könnte: gerechter, wahrhaftiger, friedlich.
Und in der Bibel wird diese Aussicht auf Wandel immer wieder ganz unterschiedlich beschrieben, sogar bis zuletzt. Aus dem Buch der Offenbarung:
Text (Jörg Metzinger)
Sieh her: Gottes Wohnung bei den Menschen. Er wird bei ihnen wohnen und sie werden seine Völker sein. Gott selbst wird als ihr Gott bei ihnen sein. Er wird jede Träne abwischen von ihren Augen und es wird kein Leid mehr geben.
Text (Britt Goedeking)
So klingen die visionären Perspektiven auf einen Wandel, der von Gott kommt. Das macht mir Mut zum Trotzdem: Bäume, gepflanzt mitten hinein in meine Wut, werden nicht vergebens sein. Das sagt Gott, der uns Menschen viel Wandlungsfähigkeit zutraut – immer schon: dass wir unseren, wenn auch schweren Mut auf neue Möglichkeiten des Lebens mit der Schöpfung nicht verlieren, dazu umgibt uns eine Wolke von Zeugen: Menschen, von denen die Bibel beschreibt, dass sie ihr Trotzdem in Krisenzeiten gewagt haben, weil sie von Gott mir Hoffnung angesteckt wurden. Auch ihrer Energie des Zorns, der Wut verschafften Menschen zu allen Zeiten Luft. Heilsam, wenn daraus Bäume wachsen und das Lebensmittel Mut entsteht. So wird Reformation im besten Sinn: Erneuerung und Wandel möglich.
Christina Brudereck beschreibt den Wert solcher Energie. ZORN von Christina Brudereck:
Text (Jörg Metzinger)
Wo Zorn ist, ist Energie.
Oft beginnt der Mut mit der Wut.
Mit dem Willen, etwas zu ändern.
Zorn macht uns darauf aufmerksam, dass etwas nicht stimmt.
In Empörung steckt Kraft.
In Entrüstung enorme Leidenschaft.
Ich weiß, mein Zorn ist längst nicht immer heilig.
Aber Zorn entsteht nicht nur aus beleidigtem Stolz,
sondern auch aus Hunger nach Gerechtigkeit
und kann in dieser Welt sehr angemessen sein.
Text (Britt Goedeking)
Es passt für mich zum Reformationstag, zum Gedenktag der Erneuerung der Kirche, die Martin Luther gewiss mit schwerem Mut angestoßen hat, sich an die Kraft der Wut und den schweren Mut erinnern zu lassen. Jesus selbst hat diese Kräfte so oft gebraucht: schwerer Mut als Lebensmittel seit biblischer Zeit. Was für eine Kraft liegt in der Wolke der Zeugen, die Gottes Ruf durch die Jahrhunderte hindurch ernst genommen haben: Wandel zu Liebe und Gerechtigkeit sind möglich! Auch wenn es gerade an vielen Stellen auf unserer Erde nicht so aussieht, kommt es auf unser aller Trotzdem an.
Schließlich ist Gottes Liebe nicht nur ein Wort.
Text (Jörg Metzinger)
Ich setze auf die Liebe
Wenn Sturm mich in die Knie zwingt
Und Angst in meinen Schläfen buchstabiert
Ein dunkler Abend mir die Sinne trübt
Ein Freund im anderen Lager singt
Ein junger Mensch den Kopf verliert
Ein alter Mensch den Abschied übt
Das ist das Thema
Den Hass aus der Welt zu entfernen
Und wir bereit sind zu lernen
Dass Macht Gewalt Rache und Sieg
Nichts anderes bedeutet als ewiger Krieg
Auf Erden und dann auf den Sternen
Die einen sagen es läge am Geld
Die anderen sagen es wäre die Welt
Sie läg in den falschen Händen
Jeder weiß besser woran es liegt
Doch es hat noch niemand den Hass besiegt
Ohne ihn selbst zu beenden
Er kann mir sagen was er will
Und kann mir singen wie er`s meint
Und mir erklären was er muss
Und mir begründen wie er’s braucht
Ich setze auf die Liebe! Schluss.
Musik 4: Heinz Rudolf Kunze, Hotzenplotz (instrumental) (3‘18“, bei 2‘52“ vor Applaus schneiden)
Text (Britt Goedeking)
Gott segnet diejenigen, die schweren Mut aufbringen.
Jesus begleitet alle, die aufrecht und aufrichtig für Wandel und Erneuerung eintreten! Zukunft soll möglich bleiben.
Gottes guter Geist ist mit allen unterwegs, die Liebe ausbreiten, wo Zorn zerstörerisch wird!
So schenke Gott Ihnen allen, lieben Hörerinnen und Hörern, einen gesegneten Reformationstag, der Sie ermutigt, der Zuversicht Raum zu geben – Sie können ja einen Baum in Ihre Wut pflanzen. Möge es der Baum des heilenden Trotzdem sein!
Musik 5 wie 1: Heinz Rudolf Kunze, Der schwere Mut (4‘03“) – ausblenden