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Schutzengel

Endlich ist es soweit! Mein Enkel David wird eingeschult! Schon lange liegt die Schultüte fertig auf dem Schrank. Und die Schultasche hat er mit seinen Eltern schon vor Wochen gekauft. Passend dazu ein Federmäppchen und einen Turnbeutel. Die Tasche hat David in den letzten Tagen ständig aus- und eingepackt. Doch wenn ich ihn frage, ob er sich auf die Schule freut, bekomme ich nur ein zögerndes Schulterzucken zur Antwort. Auf meinen erstaunten Blick hin sagt er dann, dass er schon ein Schulkind werden möchte. Und Lesen- und Schreiben können – das findet er auch ganz toll. Was ihn zögern lässt, seien auch nicht die Hausaufgaben.

Was er fürchtet, sind die Streitereien, die unvermeidlichen Auseinandersetzungen um die Anerkennung in der Klasse. Von seinen älteren Freunden hat er da schon so allerhand mitbekommen. David weiß eben noch nicht, wie gut er sich in der Schule durchsetzen und selbst schützen kann. Im Kindergarten ist er gut zurechtgekommen. Aber nun, in der Schule, wird er vor vielen neuen Herausforderungen stehen.

In solchen Situationen haben Eltern schon früher ihren Kindern etwas von Schutzengeln erzählt. Göttlichen Wesen, die sie bei allem begleiten und beschützen, besonders wenn sie lieb sind. In unser heutiges Weltbild passen diese kleinen Engel mit Flatterflügeln und weißem Schwebekleid nur schlecht. Doch das Vertrauen und Zutrauen, das damit vermittelt wird, möchte ich David schon mit auf den Weg in die Schule geben.

An einem Sommernachmittag lese ich ihm aus einem Kinderbuch vor. „Weißt du, was Engel sind?“ fragt da ein Kind seinen Teddybären. Der Teddy weißt es nicht wirklich. Als Teddy meint er ohnehin nicht genug zu wissen.  Doch eins weiß er ganz sicher: „Ein Engel ist einer, der bleibt!“, sagt der Teddybär. „Einer, der bleibt, wenn alle anderen weggehen. Einer, der zu einem hält, auch wenn alle anderen einen auslachen!“ Das Kind in der Geschichte ist beeindruckt von dieser Antwort und will wissen, ob es selbst vielleicht auch ein Engel ist. „Vielleicht“, sagt der Teddy, „vielleicht bist du auch manchmal ein Engel!“

Jetzt, kurz vor dem Beginn der Schule kennt David diese Geschichte fast auswendig, so oft hat er sie gehört. Und auch bei mir hängt der Satz des Teddys fest im Gedächtnis: „Ein Engel ist einer, der bleibt!“

Solche handfesten Engel in der Schule zu haben, ist gut. David kann sich vorstellen, dass es die dort gibt, unter den Erwachsenen und vielleicht auch unter den anderen Kindern: Solche, die bei ihm bleiben, wenn er sich bedroht oder ausgegrenzt fühlt. Und auch er selbst kann hier und dort vielleicht zu einem Engel werden. Dann nämlich, wenn er bleibt, wenn andere ausgelacht, im Stich gelassen oder angegriffen werden.

Schon einige Male hat er das beim Spielen ausprobiert. Da hat er sich schützend vor ein anderes Kind gestellt. Ein paar Häuser weiter ist Soran mit seinen Eltern eingezogen. Sie kommen aus Syrien, David hat ihn in seiner Kindergartengruppe kennengelernt. Soran spielt oft allein auf der Straße, die anderen Kinder wollen ihn nicht bei ihrem Spiel dabeihaben. „Der ist doof,“ sagt einer. „Ich kann ihn nicht leiden.“ Zuerst will auch David nichts mit Soran zu tun haben. Bis ein Nachbar mit einem großen Hund an den Kindern vorbeigeht, vor dem sie sich immer ein wenig fürchten. Doch Soran, der in der Nähe ist, geht spontan auf den Hund zu, schlingt die Arme um seinen Kopf und streichelt ihn. „Du bist aber mutig! Was du dich alles traust!“ Völlig überrascht bleibt David stehen und schaut Soran an. „Wenn du willst, kannst du mal mit meinem Kett-car fahren!“ sagt David nach einer Weile. Seitdem darf auch Soran mit den anderen mitspielen, David nimmt ihn in Schutz, wenn wieder einmal jemand gemein zu ihm ist.

Und auch ich kann David zum Engel werden. Ich kann bei ihm bleiben, wenn die Klassenarbeiten einmal nicht so gut ausgefallen sind oder er Streit hat mit dem besten Freund. Ich kann hier und da ein Engel sein, eine Botin Gottes. Denn auch Gott ist einer, der bleibt. Und deshalb schenke ich David zum Schulanfang einen kleinen Bronzeengel, der ihn daran erinnert, dass er nicht allein ist.