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Schichtwechsel

Mit den Augen eines anderen sehen. Das hätte ich heute machen können. Schichtwechsel – so heißt eine Aktion der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen, bei der man heute seinen Arbeitsplatz tauschen konnte. Das Angebot gab es in vielen Bundeländern.

Wie mag es sein, in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderung zu arbeiten? Und – wie mag es sein, dort für rund 200 Euro im Monat zu arbeiten? Für einen Stundenlohn von unter einem Euro fünfzig?

Unter dem Hashtag „ihrbeutetunsaus“ machen Menschen mit Behinderung zurzeit in sozialen Medien auf ihre eklatante Unterbezahlung aufmerksam. Tatsächlich ist Arbeit in Reha-Einrichtungen vom Mindestlohn ausgenommen. Wer könnte mit 200 Euro seine Lebenshaltung bestreiten?

Betreiber wenden ein, Menschen mit Behinderung erhielten umfangreiche Sozialleistungen, die Arbeitsplätze seien teuer, Produkte anders nicht marktfähig. Und der gezahlte Arbeitslohn sei nur Teil eines Gesamtpakets, das oftmals Wohnung, Verpflegung und Gemeinschaft mit umfasse.

Verbände der Betroffenen halten dagegen: Gerade das ist das Problem. Diese überkommene Lebensform in Einrichtungen, geordnet nach Art und Schwere der Behinderung. Diese Nicht-Inklusion.

Es ist eine Frage des Blickwinkels. Und eine Frage von Rechten und Gerechtigkeit. Schon vor zehn Jahren hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterschrieben. Sie sagt klar: Menschen mit Behinderung haben das Recht auf Arbeit, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienen können. Dies wurde in Deutschland bisher nicht umgesetzt. Auch, weil unser Gerechtigkeitsverständnis zu sehr an der Verwertbarkeit von Arbeit ausgerichtet ist, an der Arbeitsleistung.

Jesus hat in einem Gleichnis darauf hingewiesen, dass Gerechtigkeit aber noch anderen Maßstäben folgen muss – zum Beispiel dem Bedarf. In der Geschichte bekommen Tagelöhner, die unterschiedlich lang gearbeitet hatten, am Abend alle den gleichen Lohn. Einen Lohn, der ihren Bedarf deckt.

Zugegeben, Jesus beschreibt in seiner Geschichte das Himmelreich. Wie nah oder fern das ist, das weiß nur er. Unsere Aufgabe bis dahin bleibt aber, nach Gerechtigkeit zu suchen. Also mit den Augen des anderen zu schauen. Und da ist es Zeit für einen Schichtwechsel im System der Werkstätten für Menschen mit Behinderung.

 

Hier der Link zur SR-Mediathek: https://www.sr-mediathek.de/index.php?seite=7&id=119584