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Saure Trauben und stumpfe Zähne im Wartezimmer

Wissen Sie, ich freue mich ja immer ein wenig auf einen Besuch beim Arzt. Also weniger auf die Behandlung. Womöglich beim Zahnarzt. Nein, ich genieße die Zeit davor. Die „Zone der Stille“ im Wartezimmer, in die ich eintauche nach der Hektik und dem Lärm des Alltags. Letzte Woche war das anders. Ich kam ins Wartezimmer und es war nicht still. Da saßen zwei und plauderten. Zwei Pensionäre im fortgeschrittenen Alter.

„Alles geht den Bach runter!“ „Schlagen sich die Köpfe ein wie im Mittelalter.“ „Man hat‘s ja kommen sehen…“ „Aber nix gelernt, die Menschheit.“ „Irgendwelche Emporkömmlinge, denen die Masse nachrennt“ „Ins Verderben!“ „Und die Jungen, die werden‘s schwer haben.“ „Aber die wollen ja nicht auf uns Alte hören.“ „Tja, jetzt isses zu spät.“ „Können bei Null anfangen“. „Gut, dass ich das nicht mehr erleben muss.“

So ging das eine ganze Weile.

Zuerst war ich ja amüsiert. Wie die beiden sich gegenseitig hochsteigerten und immer heftiger lamentierten über die Schlechtigkeit der Welt. So oft gehört von Alten, die die Gegenwart immer weniger verstehen. Dann hab ich mich geärgert: sich selbst aus der Verantwortung stehlen und den Jungen die Probleme zuschieben? Und dabei sicher sein, selbst einigermaßen komfortabel zu Ende zu leben. Wer hinterlässt denn diese Welt so? Tja, und dann saß ich da im Wartezimmer, sah mein kahles Haupt im Spiegel gegenüber, dachte an meine drei Implantate, zu denen wohl bald ein viertes dazukommt. Mann, ich bin ja auch über sechzig und denke doch auch oft: „Geht’s dich noch was an? Sollen doch die Jungen jetzt mal machen!“ Ertappt.

In der Bibel heißt es: „Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Kindern sind die Zähne stumpf geworden…“ Kinder, sagt dieses Sprichwort von den sauren Trauben, Kinder werden es lebenslang spüren, was ihre Eltern getan oder versäumt haben. Wie ein Korsett wird sie das einschnüren und am Leben hindern. Ich habe nicht den Eindruck, dass meine Generation sich dessen wirklich bewusst ist: Was wir unseren Kindern und Enkelkindern hinterlassen an Saurem. In der Natur, in den politischen Verhältnissen. Und wie wir weiter als größte Wählergruppe im Land objektiv notwendige Veränderungen ausbremsen.

Ich war sehr nachdenklich, als ich dann ins Behandlungszimmer gerufen wurde.

 

Link zur Mediathek: https://www.ardmediathek.de/video/aus-christlicher-sicht/aus-christlicher-sicht-22-08-2024/sr/Y3JpZDovL3NyLW9ubGluZS5kZS9BQ1NfMTQzNjU3