Reformationstag
MUSIK 1: Chevalier de Sangreal
Autorin
Liebe Zuhörerinnen, liebe Zuhörer!
Heute am Reformationstag mache ich mich auf die Suche nach einer Antwort auf die Frage: Wie wird die Zukunft der Kirche aussehen?
Viele kluge Menschen investieren im Moment jede Menge Zeit und Kraft in diese Frage. Immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus. Die Mitgliederzahlen schwinden schneller, als die Prognosen vor wenigen Jahren kalkuliert haben. Damit werden auch die finanziellen Ressourcen immer weniger. Es gibt immer weniger Pfarrpersonen, weniger Diakoninnen und Diakone, weniger Gemeindepädagog*innen. Auf einige wirkt es, als wird es über kurz oder lang die Evangelische Kirche wie wir sie kennen gar nicht mehr geben. Es gibt Pfarrpersonen, die schreiben auf Social Media:
Sprecherin 1
Wir steuern gradewegs auf dem Abgrund zu.
Musik
Autorin
Ja, vielleicht steuern wir als Kirche grade auf den Abgrund zu. Vielleicht ist aber auch endlich der Punkt gekommen, an dem diejenigen, die noch da sind, radikal anders denken, planen, machen müssen – und können. Bei anderen Organisationen und Institutionen gibt es dafür ein Muster. Man spricht dabei vom „Tal des Todes“. Quasi ein Ende dessen, wie es bisher war. Ich wage zu sagen: die verfasste Kirche, so wie wir sie gekannt haben, ist genau da angekommen. Blickt ins Tal des Todes. Aber als gläubige Christin halte ich daran fest, dass selbst nach diesem Tal etwas Neues kommen wird. Die Fragen sind: WAS wird kommen? WIE wird es sein?
Sprecherin 2
Welche Entscheidungen müssen wir heute treffen, damit wir gewesen sind, wen wir für den Weg in die Zukunft gebraucht haben?
Autorin
Wie sieht die Zukunft der Kirche aus?
Noch hat niemand eine Antwort gefunden. Aber viele suchen sie.
Sprecherin 1
Wir müssen uns auf unsere Wurzeln besinnen! Wir sind die Kirche Jesu Christi!
Autorin
Ja schon, aber das ist keine Antwort auf die Frage, wie die Zukunft aussehen wird.
Denn egal welche Struktur unsere Kirche in Zukunft hat – sie bleibt so oder so Kirche Jesu Christi, denn er ist das Fundament.
Sprecherin 1
Hast du junger Hüpfer denn überhaupt eine Ahnung, was Kirche wirklich bedeutet? Was weißt du schon!?
Autorin
… wer bestimmt denn, was „Kirche“ wirklich bedeutet?
Wer bestimmt, wie sie aussehen soll, darf, kann?
Die Antwort auf die Frage nach der Zukunft ist genau betrachtet gar nicht zu finden. Wir können es nicht wissen. Keine und keiner von uns.
Und trotzdem suchen wir…
Es ist ein bisschen wie die Suche nach dem Heiligen Gral. Oder nach einem Patentrezept, das garantiert, dass „alles gut wird“ mit unserer Kirche.
Ich erlebe im Moment wie Haupt- und Ehrenamtliche miteinander ringen, um Pläne für Sparmaßnahmen, Konzepte für Gebäude und vieles mehr.
Es gibt einige Menschen, die tun sich schwer damit, so viel Veränderung auf einmal zu verarbeiten. Sie kannten „ihre Kirche“ ja nur als einen Hafen, der immer da war. Der offen war und Sicherheit gegeben hat. Es hat sich für einige wohl angefühlt, als ob bei Kirche die Welt noch in Ordnung war, obwohl es schon immer viel gab, was sich verändert hat. Im Rückblick wirkt es aber, als ob Kirche eine „Heile Welt“ war.
Sprecherin 1
Die Kirche, die ich kannte, liegt jetzt schon in Scherben vor mir.
Sie ist auseinander gebrochen. Dabei soll sie doch ein Ort sein, wo alles ganz ist. Sie darf nicht kaputt sein! Sie soll so bleiben, wie sie ist. Ich weiß eigentlich, dass das unmöglich ist, aber ich will an ihr festhalten – so wie sie war.
Autorin
Ja, ich spüre auch, wie weh die Veränderung tut.
Letztes Silvester hab ich zum Beispiel mit einer Kirchengemeinde den Abschied von einer Kirche in einem Gottesdienst gestaltet. 50 Jahre lang war dieses Gebäude Heimat für viel Leben. Die Kirche zu verkaufen war aber die einzig rationale Möglichkeit. Die logische Entscheidung ändert aber nichts an der Trauer, die der Abschied bedeutet. Überhaupt – die ganzen notwendigen Veränderungen in Kirche auf struktureller Ebene – die sind rational zu begründen. Es mangelt an Geld, Personal, Interesse. Das ist eben so. Es sind rationale Dinge, die die Veränderung notwendig machen. Dieser Notwendigkeit mit Moralisierungen und Emotionalisierungen entgegen wirken zu wollen, ist schlicht eine falsche Ebene.
Sprecherin 1
Die Erfahrung zeigt, dass Menschen sich danach sehnen, dass wenigstens irgendwas im Leben „heil“ ist. Grade in der Welt heute. Wie viele zerbrochene Beziehungen und geplatzte Träume tragen Menschen mit sich rum. Ängste und Befürchtungen tun noch ihren Teil dazu und vergiften den Verstand und das Herz.
Wenigstens an einer Sache festhalten können, die „heil“ bleibt. Das wünsche ich mir.
Autorin
Genau an diesem Festhalten, daran störe ich mich ehrlich gesagt.
Ich erinnere mich an die vielen Male in meinem Leben, in dem etwas zerbrochen ist. Und jedes einzelne Mal hat es mir nichts als Schmerz gebracht, wenn ich Festhalten wollte…
Die Frau, die mich nicht geliebt hat, das erste Studium, das ich voll in den Sand gesetzt habe. Die Freundschaft, die in die Brüche gegangen ist.
Erst als ich gelernt habe los zu lassen – konnte auch mein Schmerz zu etwas anderem werden. Der Schmerz wurde zu einer Kraft, die mich wieder ein Stück voran gebracht hat.
MUSIK 2: Test Drive – John Powell
Sprecherin 2
„Stell dir einfach vor, du stehst auf einem Zehn-Meter-Brett und willst runter springen. Du hast natürlich Angst – du weißt ja nicht, was wird, wenn du unten ankommst. Du kannst da oben stehen und die Angst 100 mal fühlen, alle möglichen Ausgänge nach deinem Sprung durchdenken. Aber du wirst erst wissen, was wirklich passiert, wenn du springst.“
Musik
Autorin
Wie sieht die Zukunft der Kirche aus? Viele suchen die Antwort.
Aber in Wirklichkeit kann niemand die eine richtige Antwort finden.
Sprecherin 2
Wenn du ins Tal des Todes blickst, kannst du 100 mal die Angst vor dem Sprung fühlen. Du kannst alle Möglichkeiten durchdenken, wie es ausgehen könnte.
Aber du wirst erst wirklich wissen, was passiert, wenn du springst.
Autorin
Freier Fall – ohne Netz. Ein Sprung ins Ungewisse.
Sprecherin 1
Vor mir die Ungewissheit, in mir die Angst. Kein Sicherheitsnetz, keine Hilfsleine.
Da bleibe ich lieber oben am Abgrund stehen! Bisher lief es doch auch immer irgendwie weiter! Das hat mir Sicherheit gegeben!
Autorin
Dann springe ich für uns beide. Die Sicherheit, die du spürst, die gab es für mich nie wirklich. Ich bin schon groß geworden in einer Kirche, die mir keinen Platz gemacht hat.
Als Jugendliche war ich zu laut, zu links, zu fordernd. Habe nicht in das Bild deiner „heilen Welt“ in der Kirche gepasst. Meine Nägel waren zu bunt, meine Kleider für dich „unangemessen“ und dass ich Make-Up trage für dich ein No Go.
Ich habe die letzten 20 Jahre deine Traditionen gelernt und gleichzeitig über den Tellerrand geschaut. Bin Pfarrerin geworden, obwohl ich – wenn es nach dir ginge gar nicht dazu gehören sollte.
Ich bin die, die laut in Kirchen schreien kann, die mit Klebetattoos, Glitzer und Seifenblasen segnet. Ich feiere Abendmahl mit Keks-Herzen und erzähle Geschichten vom Glauben, die nicht aus der Bibel stammen.
… und gleichzeitig: bin ich die, die Sterbende begleitet, so wie du es gewohnt bist. Traueransprachen oder Predigten schreibt, die dich zu Tränen rühren.
Vieles an mir ärgert dich.
Ich bin mit vielen anderen zusammen der lebendige Beweis dafür, dass Kirche auch anders sein kann. Anders als sie schon immer war. Und dennoch weiter „KIRCHE“ sein kann, wie sie sich für dich nach Sicherheit anfühlt.
Ich will den Sprung wagen.
Allein aus Neugier, was alles noch kommen kann.
Für mich … ist Kirche nicht zerbrochen.
Sie ist heil, so wie sie ist.
Sie bricht nicht auseinander – sie war schon immer ein buntes Mosaik, das sich stets verändert.
Ich will mit anderen Menschen gemeinsam nach Wegen und Lösungen suchen, wie Kirche in Zukunft aussehen kann.
Sprecherin 1
Immer schön langsam mit den jungen Pferden!
Autorin
Nein. Lass uns junge Pferde unsere Energie und Netzwerke nutzen, so wie wir können. Lass uns was verändern. Dorothee Sölle hat mal gesagt: „Christus hat keine anderen Hände als die unseren.“
Also los. Es ist Zeit für die Zukunft.
MUSIK 3: Heinz Rudolf Kunze – Deine Schuld
Autorin
Wie sieht die Zukunft der Kirche aus? Viele suchen die Antwort.
Aber in Wirklichkeit kann niemand die eine richtige Antwort finden.
Ich lese und höre im Moment viele Stimmen, die an Altem festhalten wollen.
Gleichzeitig kenne ich unglaublich viele, die so wie ich dringend die Veränderung wollen. Gegen die Festhalter anzukommen ist manchmal aber wirklich schwer.
Sprecherin 2
Glaub keinem, der dir sagt, dass du nichts verändern kannst
Die, die das behaupten, haben nur vor Veränderung Angst
Es sind dieselben, die erklären, es sei gut so, wie es ist
Und wenn du etwas ändern willst, dann bist du automatisch Terrorist
Sprecherin 1
Guck sie dir doch mal an. Die Jungen. Glotzen auf ihr Handy, aber haben keine Ahnung von Kultur – geschweige denn davon, wie man sich in einem Gottesdienst benimmt. Und dann noch diese quietschbunten Kleider, die Tattoos oder das Make-Up. Sowas hätte es früher in Kirche nicht gegeben!
Autorin
Das Handy-Glotzen und die bunten Farben. Schlimm-schlimm. Wirklich. Aber… für uns ist das Leben eben nicht mehr nur analog, sondern auch digital. Für manche ja kaum zu glauben, aber das was digital passiert ist genauso wirklich, wie das Analoge.
In der sogenannten „Church-Bubble“ zum Beispiel auf Instagram wird das ganz deutlich. Da gibt es viele Pfarrpersonen, die erreichen digital so viele Menschen, das kann ich selbst mir kaum vorstellen:
Quinton Ceasar zum Beispiel. Er war der Pfarrer der auf dem Evangelischen Kirchentag 2023 beim Abschluss-Gottesdienst gepredigt hat. Er macht sich in der Predigt und auch mit seinem Content auf Instagram stark gegen Rassismus und Queerfeindlichkeit in der Kirche. Eine der Kernaussagen seiner Predigt von 2023 war: „Gott ist queer“ und hat damit für viel Aufruhr gesorgt. Auf Insta verfolgen fast 55 000 Menschen, was er denkt, schreibt und teilt.
Auch Sarah Vecera erreicht mit ihren Inhalten als Theologin, Autorin und Bildungsreferentin knapp 17 000 Follower*innen. Unter anderem hat sie an der Alle-Kinder-Bibel mitgewirkt – eine Kinderbibel, die rassismuskritisch erarbeitet wurde. Sie hat das Buch „Wie ist Jesus weiß geworden“ verfasst und auch schon über die Zukunft der Kirche nachgedacht und gemeinsam mit anderen kluge Aufsätze im Buch „Gemeinsam anders“ veröffentlicht.
MUSIK 4: Sogno di volare – Christopher Tin
Und eine aus dem Saarland, deren Beliebtheit immer größer wird: Pfarrerin Elisabeth Lang aus Bexbach. Auf ihrem Kanal teilt sie, was sie in Bexbach mit den Ehrenamtlichen auf die Beine stellt. Und regelmäßig gibt es bei ihr Segens-Content.
Und ja, es gibt sogar viele junge Menschen, denen es gut tut auf so einem Kanal was für sich mit zunehmen. Ein Like da zu lassen. Manche stehen für eine Andacht von christlichen Influencer*innen sogar zu sehr un-christlichen Zeiten auf.
Sprecherin 1
Es ist mir einfach ein Rätsel…
Autorin
Mir auch. Vieles sogar. Und vieles wird ein Rätsel bleiben. So ist das mit der Zukunft und mit der Wirklichkeit. Es gibt nicht die eine richtige Sache. Es bleibt ungewiss, was sein wird. Keine von uns kann in die Zukunft schauen. Das hindert mich aber nicht daran, an eine glänzende und regenbogenbunte Zukunft für Kirche zu glauben.
MUSIK 4: Sogno di volare – Christopher Tin hochziehen
Autorin
Wie sieht die Zukunft der Kirche aus? Viele suchen die Antwort.
Aber in Wirklichkeit kann niemand die eine richtige Antwort finden.
Es ist Zeit zum Ausprobieren. Manches muss sterben dürfen, damit anderes neu wachsen kann. Wir können nicht wissen, was kommen wird. Wir können noch so oft rational planen und durchdenken – nur, wenn wir springen werden wir irgendwann wissen, wo sich unsere Herzen in Kirche neu zuhause fühlen.
Im Musikstück von Christopher Tin eben sagt der Text übersetzt:
Sprecherin 2
Sobald du einmal geflogen bist,
wirst du entscheiden,
in den Himmel starrend wirst du es wissen,
dass sich dort dein Herz zu Hause fühlt
Der Mensch wird
aus eigener Kraft fliegen
Wie die Vögel, bis in den Himmel
das Universum mit Wunder und Herrlichkeit füllen
Autorin
Eigentlich herrlich ironisch. Das wunderbare klassisch anmutende Stück mit Chor-Gesang wurde 2016 komponiert für ein Computerspiel das genau die Thematik behandelt, über die wir die ganze Zeit sprechen. Das Spiel heißt Civilisation VI. Man beginnt mit einer minderbemittelten Zivilisation, die größer, stärker, schlauer werden kann. Je nachdem in ob man in Regierungsstruktur, Technologie oder Kultur investiert und mit wem man Bündnisse schließt oder im Krieg steht, ändert sich der Verlauf des Spiels. … und eben der Zustand der eigenen Zivilisation.
In dem Spiel läuft es so: wenn du kluge und richtige Entscheidungen triffst, wirst du eine glänzende Zukunft haben.
Sprecherin 1
In einem Spiel ist das auch was anderes… hier geht es um KIRCHE und um MENSCHEN! Da muss eben alles bis ins Kleinste durchdacht sein!
Autorin
Da bin ich anderer Meinung. Eben weil es ja sowieso nicht DIE KIRCHE gibt, sondern sie so bunt schillert wie ein riesiges Mosaik.
Manche Entscheidungen müssen eben jetzt getroffen werden. Sie mögen unbequem sein oder sogar verrückt klingen. doch wer weiß… vielleicht wird es sich so anfühlen wie in dem Stück von Christopher Tin. Nach Fliegen und einem Herz, das sich zuhause fühlt, wie ein Universum voller Wunder und Herrlichkeit… Diese Zukunft hat eine Chance verdient, finde ich.
Sprecherin 1
Rede du nur von einer glänzenden Zukunft. Dabei sagst du doch selbst, dass keiner es wissen kann, was kommt.
Autorin
Ja. Stimmt. Wissen kann es auch keiner.
Aber GLAUBEN.
Und ich glaube fest an eine Zukunft von Kirche, die funkelt und lacht und regenbogenbunt ist. Vielleicht ist es jetzt einfach Zeit, die Segel zu drehen. Den Wind können wir ja nicht ändern. Ich glaube: JETZT ist die Zeit für den Sprung in einen Neuanfang.
MUSIK 5: Clueso – Neuanfang