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Pudding der Barmherzigkeit

Streit unter den Geschwistern. Die Schwester, frech, rammt  dem älteren Bruder die Spitze des Geodreiecks in den Schenkel. Der versucht sie mit dem Zirkel zu stechen. Das Geschrei der beiden alarmiert die Mutter: Schluss! verordnet die und bestraft die beiden: „Dafür gibt’s jetzt keinen Pudding zum Nachtisch!“ Nach dem Mittagessen schweigen die Kinder. Die Mutter schweigt auch. Dann teilt sie Dessertteller für alle aus, schaut die Übeltäter noch einmal streng an und sagt barmherzig, die Schöpfkelle in der Hand: „Verdient habt ihr es ja nicht!“ –

Ja, die Mutter ist barmherzig. Sie lässt Gnade vor Recht ergehen. Aber sie ist mit diesem „Verdient habt ihr es ja nicht!“ zugleich moralisch. Für mich: zu moralisch. Wie es anders gehen kann – davon erzählt Reinhard Mey in seinem Lied vom „Zeugnistag“. Er war faul in der Schule. Aber ein solcher Versager zu sein, hatte er nicht geglaubt. Nicht einmal eine Vier in Religion.  Er traut sich nicht, das Zeugnis den Eltern zu zeigen und fälscht die Unterschrift. Der Betrug fällt auf. Der Rektor lässt den Jungen und die Eltern zu sich kommen und konfrontiert sie mit der  Urkundenfälschung. Mey singt:

„Mein Vater nahm das Zeugnis in die Hand und sah mich an
Und sagte ruhig: „Was mich anbetrifft,
So gibt es nicht die kleinste Spur eines Zweifels daran,
Das ist tatsächlich meine Unterschrift.“

Und auch die Mutter sagt, ja, das sei ihr Namenszug, gekritzelt zwar, aber echt.

„Ich weiß nicht, ob es Rechtens war, dass meine Eltern mich
Da rausholten, und wo bleibt die Moral?“

fragt Reinhard Mey dann weiter. Für mich ist das Verhalten der Eltern barmherzig. Im besten biblischen Sinne. Das Alte Testament nennt Gott barmherzig, weil er hilft und vergibt. Aber ohne daran Bedingungen zu knüpfen. Eben anders als die Mutter mit dem Pudding.

Der katholische Theologe und Redakteur Matthias Drobinski erklärt Barmherzigkeit so: „das Herz zu wenden, hin zu dem, der in Not ist und bedürftig, und zwar völlig egal, ob es dieser Mensch verdient hat oder nicht.” Reinhard Mey bringt das so auf den Punkt:

„Wie gut es tut, zu wissen, dass dir jemand Zuflucht gibt.
Ganz gleich, was du auch ausgefressen hast!“.