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Platzwechsel

Mein Platz ist mein Platz! Wenn ich ihn mir einmal erobert habe, dann geb‘ ich ihn nicht mehr her. Ich beobachte diese Verhaltensweise bei mir und bei fast allen anderen Menschen. Aufgefallen ist sie mir als erstes bei Fortbildungen. Eine sich vorher unbekannte Menschengruppe betritt erstmals den Seminarraum. Jeder sucht sich relativ willkürlich einen Platz. So weit, so gut. Am nächsten Tag aber setzt sich jeder Seminarteilnehmer wieder auf exakt den gleichen Stuhl wie am Vortag. Ich mache mir dann oft den Spaß, am dritten Tag gezielt als erster den Seminarraum zu betreten und einen anderen Platz zu wählen. So kommt die Sitzordnung durcheinander. Niemand sagt etwas dazu. Aber die kurze Verwirrung ist sichtbar.

So wie bei Fortbildungen ist es auch sonst: Ich sitze zum Beispiel immer auf dem gleichen Platz am Esstisch. Auch am Stammtisch der Hobby-Volleyballer haben alle seinen und ihren festen Platz. Regelmäßige Kirchgänger sitzen immer auf der gleichen Bank an der gleichen Stelle. Schon im Kindergarten hat jedes Kind seinen Kleiderhaken. Es muss ein tiefsitzender Instinkt sein, dass wir Menschen einen einmal eroberten Platz so schnell nicht mehr hergeben.

Und das hat ja auch sein Gutes. Mein Platz gibt mir Sicherheit. Ich weiß, wo ich hingehöre. Ich muss mir nicht immer neu meinen Platz suchen. Und das geht weit über Sitzordnungen hinaus. Ich möchte einen Platz in meiner Familie, in meinem Freundeskreis, in meiner Gesellschaft haben. Ständige neue Suche wäre ein enormer Verlust an Sicherheit. Ich käme vor lauter Platzsuche nicht mehr dazu, meinen Platz auch sinnvoll auszufüllen.

Aber diese Gewohnheit hat natürlich auch ihre Nachteile. Ich habe von meinem Platz aus immer die gleiche Perspektive. Der immer gleiche Platz bewirkt Sicherheit aber auch Erfahrungsarmut. Darum ist es durchaus reizvoll, mal einen anderen Platz auszuprobieren. Einmal zu entdecken, wie sich das anfühlt, auf der anderen Seite des Tisches, an einer anderen Position in der Gruppe und der Gesellschaft. Das ist eine kleine Übung darin, was die Profeten in der Bibel immer wieder einfordern. Nehmt mal einen anderen Platz ein – und schon versteht ihr etwas besser, wie sich derjenige fühlt, der sonst dort sitzt.