Platzhalter
Wer Theologie studiert, muss gleich am Anfang drei große Hürden überwinden. Um Pfarrerin werden zu können, musste ich Alt-Griechisch, Latein und Alt-Hebräisch lernen. Da hat mir ziemlich oft der Kopf geraucht.
Gerade bei Alt-Hebräisch bin ich aber froh und dankbar, dass unser Professor uns immer mit lustigen Geschichten oder verrückten Bibelstellen zum Lachen gebracht hat. Besonders gut sind mir die „Platzhalter“ im Gedächtnis, die es in der hebräischen Bibel gibt.
Solche Platzhalter gibt es auch in der vielleicht bekanntesten Geschichte der hebräischen Bibel – in der Schöpfungserzählung, die im Garten Eden spielt. Noch bevor diese Geschichte überhaupt aufgeschrieben worden ist, wurde sie über Jahrhunderte weitererzählt.
Zu guten Geschichten gehört auch: sie etwas ausschmücken zu können. Und dafür gibt es bei dieser aufgeschriebenen Erzählung im Hebräischen einen Platzhalter. Also eine Markierung, dass genau hier richtig schön ausgeschmückt werden kann.
Bei unserem Professor klang die Geschichte dann so:
Gott der Herr formte aus dem Erdboden alle Tiere auf dem Feld und alle Vögel am Himmel. Dann brachte er sie zu dem Menschen, um zu sehen, wie er sie nennen würde. Jedes Lebewesen sollte so heißen, wie der Mensch es nannte. Gott brachte ein großes braunes Tier. Mit vier Beinen, zwei merkwürdigen Höckern auf dem Buckel. Es müffelte ein bisschen. „Das nenne ich Kamel!“ sagte der Mensch. Gott brachte ein schwarzes Tier mit Flügeln zum Menschen. Schwarze Knopfaugen und einen schwarzen Schnabel hatte es. Und gekrächzt hat es. „Das nenn ich Rabe!“ rief der Mensch.
Sie ahnen: für die Vielfalt der Tiere gibt es den Platzhalter im Text. Wer gut Geschichten erzählen kann, nutzt eben solche Platzhalter, um die Zuhörerinnen und Zuhörer zu fesseln.
Wenn ich es mir recht überlege, bin auch ich relativ oft eine Geschichtenerzählerin. Nur nutze ich meine Platzhalter ein bisschen anders. Ich schmücke nicht aus, sondern lasse Platz für die Gedanken und Erinnerungen meiner Zuhörer*innen.
Bei Trauerfeiern zum Beispiel: Meine Ansprache hat nur eine einzige Quelle – Ehepartner, Familienmitglieder oder Freunde erzählen mir die Geschichte eines verstorbenen Menschen.
Wer die Geschichte eines anderen erzählt, der erzählt sie schon mit Platzhaltern. Zum Beispiel erzählt mir ein Enkel, dass seine Oma das beste Soulfood kochen konnte. Bei ihrem Essen wurde ihm immer warm ums Herz. Aber von ihrer Kindheit wusste er nicht viel. Sie wollte nie darüber sprechen, was ihr im Krieg alles passiert ist.
Viele Platzhalter sind in Lebensgeschichten. Geht ja auch gar nicht ohne. Nicht mal meine eigene Lebensgeschichte könnte ich minütlich nacherzählen. Wer Lebensgeschichten von Verstorbenen nacherzählt, verändert sie. Nicht böswillig oder absichtlich. Sondern einfach, weil ganz bestimmte Erinnerungen im Vordergrund sind. Weil etwas vergessen worden oder unklar ist.
Meine Traueransprachen sind deswegen keine kompletten Lebensgeschichten, sondern kleine Ausschnitte. Ich lasse ganz bewusst hörbare Platzhalter. Wenn es zum Beispiel etwas Unschönes gab, dann reicht ein kleiner Hinweis. Wer Bescheid weiß, denkt sich den Rest.
Und auch wenn es überhaupt möglich wäre: Weder in Trauergespräch noch Traueransprache ist genug Zeit, um eine ganze Lebensgeschichte zu erzählen. Es sind Ausschnitte und Platzhalter, die die Erinnerung an einen Menschen so lebendig machen, weil zwei Menschen immer eine einzigartige Verbindung zueinander haben. Niemand sonst kann davon erzählen. Nur in Ausschnitten und mit Platz für das, was alles nicht ausgesprochen wird.
in Ausschnitten und mit Platz für das, was alles nicht ausgesprochen wird.