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Perspektivenwechsel

Eine Frau schreibt an ihre erwachsene Tochter: „Bei einem unserer Spaziergänge damals habe ich dir gesagt, dass du so schlaff und ohne Elan bist, wie sich das für eine Jugendliche gar nicht gehört.  Und dass ich enttäuscht von dir bin, weil du nicht Fisch und nicht Fleisch warst! Erst sehr viel später habe ich begriffen, wie sehr ich dich mit diesem Satz verletzt habe. Und dass er dich gelähmt hat, statt dir zu nützen. Meine Liebe zu euch Kindern war eigentlich immer groß. Aber ich hatte damals nicht die Fähigkeit und die Zeit, mich damit zu beschäftigen. Ich habe es nicht geschafft, im Kampf mit dem Alltag Gelassenheit und Freude in unsere Familie zu bringen.“

Die diesen Brief schreibt, ist gar nicht die Mutter, sondern die Tochter selbst: Sie schreibt an sich selbst den Brief, den sie von ihrer Mutter nie bekommen, aber sich immer gewünscht hat. Dieser Brief wird zitiert in dem Dokumentarfilm „Liebes Ich“, der vor einigen Wochen im Fernsehen lief. In diesem Film schreiben auch noch andere Menschen Briefe an sich selbst, die sie sich immer gewünscht haben.

Was mich an dem Brief dieser Tochter an sich selbst besonders berührt, ist dies: Die Tochter schreibt aus der Perspektive der Mutter. Sie entwickelt dabei Verständnis für die Mutter.  Und was die Tochter selbst überrascht: Sie kann sich sogar vorstellen, der Mutter vielleicht einmal zu vergeben. Der Frau, unter der sie damals gelitten hat.