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Omas Wohnung

Im Wohnzimmer sieht eigentlich noch alles genauso aus wie früher. Da ist das Sofa mit der hellbraunen Tagesdecke, der Tisch mit der schweren dunklen Platte, der alte Röhrenfernseher, die Schränke mit den Deko-Trinkbechern aus Zinn. Der Teppich fühlt sich immer noch weich unter den Schuhen an und unter ihm knarzt der Fußboden an denselben Stellen, an denen er das schon immer getan hat. Wirklich: Alles ist noch genauso wie früher. Fast alles. Denn irgendwas ist doch anders. Ganz anders. Denn der Mensch, der hier mal gewohnt hat, ist nicht mehr da. Die Person, die dieses Zimmer und den Rest der Wohnung mit Leben gefüllt hat. Mit ihren Schritten, ihren Worten, ihrem Lachen, ihrer Wärme. Meine Oma ist gestorben. Und nun ist es Zeit, ihre Eigentumswohnung auszuräumen. Ein Käufer hat sich gefunden und möchte bald einziehen.

Über sechs Jahre ist das jetzt her. Aber vor meinem geistigen Auge sehe ich mich immer noch in dem Wohnzimmer stehen. So, als wäre es gestern gewesen.

Viele große Umzugskisten mitgebracht. Ich klappe sie auf und lege all das hinein, was ich gerne mitnehmen möchte. Bringe es sozusagen in Sicherheit bevor in den nächsten Tagen eine Firma kommt, die den Haushalt dann auflösen wird.

Da ist zum Beispiel das alte Kaffeeservice. Weißes Porzellan. Es muss meine Großeltern vor vielen Jahren ein Vermögen gekostet haben. Nur ganz selten, nur an ganz besonderen Tagen hat meine Oma es aus dem Schrank geholt und damit den Tisch gedeckt. Wenn dieses Service auf dem Tisch stand, dann wusste ich: Heute ist ein ganz besonderer Tag. Der ist meiner Oma besonders wichtig. Ich wickele die Tassen, Untertassen und Teller in Zeitung ein und lege sie in einen Karton. Das Rascheln des Papiers klingt fast unheimlich laut in der Stille und der Traurigkeit, die über allem in der Wohnung liegen.

Auch das alte Radio nehme ich mit. In Zeiten von Musikstreamingdiensten im Internet und mp3-playern mit kabellosen Bluetoothkopfhörern wirkt das Radio fast wie ein Relikt aus der Steinzeit.  Solange ich denken kann, hat meine Oma damit ihre Lieblingssendungen gehört. Ich schalte es kurz an. Ihr Lieblingssender ist noch immer eingestellt. Auch die Musik klingt unnatürlich laut in der leeren Wohnung.

Nach einigen Stunden ist es draußen mittlerweile dunkel geworden und die Kisten haben sich mehr und mehr gefüllt. Ganz oben in eine von ihnen lege ich das gerahmte Photo meiner Oma. Neben den Bildern der anderen Familienmitglieder hat es immer auf dem Wohnzimmertisch gestanden. So, dass meine Oma die Photos von ihrem Sessel aus immer sehen konnte. Dort hatte sie immer ihren Kaffee getrunken. Jede Tasse einzeln mit dem Handfilter gebrüht. Ich setze mich auf den Sessel, um eine wenig auszuruhen. Da fällt mein Blick auf die gerahmte Urkunde. Gegenüber des Sessels hängt sie an der Wand. Auf dem längst vergilbten Papier ist ein Kupferstich von Jesus zu sehen. Darunter die Worte „Zur Erinnerung an den Tag der Konfirmation“. Kurz nach dem Krieg war meiner Oma eine Verheißung aus dem Alten Testament zugesprochen worden. Ein Vers aus dem Buch des Propheten Jesaja steht auf der Urkunde: „Das Volk, das im Dunkeln lebt, sieht ein helles Licht und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“
Hmm, ein helles Licht, denke ich, stehe auf und lege auch die Urkunde zum Photo meiner Oma in eine Kiste.
Doch schon einen Moment später hole ich die Urkunde und das Photo wieder raus und stelle beides auf den Wohnzimmertisch. Ich gehe in die Küche und setze Wasser auf, hole den alten Handfilter und brühe frischen Kaffee auf. Dann hole ich noch eine Kerze und platziere sie ebenfalls auf dem Wohnzimmertisch. Nachdem ich sie angezündet habe, setze ich mich mit dem dampfenden Kaffee auf den Sessel und trinke langsam. Im Licht der Kerze sehe ich das Photo meiner Oma und den Konfirmationsspruch: „Das Volk, das im Dunkeln lebt, sieht ein helles Licht und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“
Als die Kaffeetasse leer ist, stehe ich auf und packe weiter. Die Traurigkeit ist noch da. Aber meine Oma ist es auch.