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Nie fertig werden

„Wirst Du heute nochmal irgendwann fertig!?“ Dieser Satz aus meiner Kindheit taucht ab und zu in meinem Gedächtnis auf. Meine Mutter hat ihn gesagt. Sie ist morgens schier verzweifelt, wenn ich so viel Zeit gebraucht habe, um wach zu werden.

Vor ein paar Tagen habe ich wieder daran gedacht, als ich ein Gedicht von Rose Ausländer gelesen habe. Das heißt: „Nicht fertig werden.“ Und beim Titel war er wieder da, der Satz meiner Mutter. Und der Stress auch.

Aber beim Weiterlesen des Gedichts habe ich gemerkt, dass Rose Ausländer mit diesen drei Worten etwas Anderes meint. Nämlich: mit dem Leben nicht fertig werden.

„Genau!“, habe ich gedacht. Das Leben mit seinen vielen fröhlichen und traurigen Augenblicken ist ja keine Aneinanderreihung von Aufgaben, die irgendwann fertig sind und abgehakt werden. Ich will nicht fertig werden mit dem Lauschen auf den Gesang von Vögeln, nicht irgendwann sagen: „So, zack, das waren jetzt die Vögel. Habe sie gesehen und gehört. Abgehakt.“. Ich will auch nicht fertig werden damit, Menschen kennen zu lernen, einfach so, ohne Zweck. Und ich will mich weiter im Leben überraschen lassen. Mein Satz aus Kindertagen: „Wirst Du heute nochmal irgendwann fertig!?“ hat mit dem Gedicht von Rose Ausländer eine ganz andere Bedeutung für mich gewonnen. Immer, wenn ich im Alltag den inneren Stress spüre, kann ich mir nun mit Gelassenheit sagen: „Nein, ich will gar nicht fertig werden mit dem prallen, bunten Leben!“.