Beiträge

„neue Saiten“

Von Zeit zu Zeit ziehe ich gerne mal wieder neue Saiten auf. Im ganz wörtlichen Sinn. Dabei hilft mir kein Plan; ich führe keinen Kalender. Meine Gitarre und ich, wir spüren es auch so, wenn unsere Stimmung kippt. Wir machen den Saitenwechsel unter uns aus – denke ich.

Aber ganz sicher bin ich mir nicht. Neue Saiten fallen für uns nämlich immer wieder mal auf einen Adventssonntag oder die ersten warmen Frühlingstage. Auch der Ferienanfang im Sommer wäre so ein Datum. Als hinge der Saitenwechsel am Lebensrhythmus. Dem Wechsel von Arbeit und ruhigeren Zeiten, dem Beginn einer neuen Etappe auf dem Weg durchs Jahr, oder an Festtagen, die vor der Tür stehen. Getrübte Stimmung braucht einen Neuanfang. Wir beide brauchen ihn.

Dieses Krisenjahr 2020 geht zu Ende und letzte Woche war es dann soweit. Zuletzt sind die Töne nur noch zäh und stumpf aus dem Schallloch getropft. Höchste Zeit für neue Saiten.  Adventslieder verlangen nach hellen Klängen, einem knisternden Ton. Sonst ertrinkt das Licht des verheißenen Morgens im irdischen Dezembergrau.

Also ran an Kopf und Wirbel, den Hals langsam entspannen. Für einen Augenblick die Stecker ziehen. Beim Anblick der D-Saite muss ich innehalten. Die feine Ummantelung! Nicht wie üblich abgewetzt, blank gespielt und von reger Benutzung gezeichnet, sie ist angelaufen, oxidiert. Wie um es mir zu sagen: „So lange hab‘ ich schon nicht mehr vor Publikum gespielt. Siehst du die Spuren meines Daseins im Homeoffice?“

„Ja, ich sehe sie, aber mir geht es doch nicht anders. Im Januar war ich zuletzt im Theater, Anfang März im Kino. Ich habe 10 Monate kein Museum besucht, kein Konzert, und im Gottesdienst gab es kein Singen und kein Abendmahl. Stattdessen kaum ein Wochenende ohne Arbeit. Ich habe versucht, den Laden am Laufen zu halten. Und den laufenden Laden hab‘ ich versucht, nach Vorschrift zu dokumentieren, falls sich jemand ansteckt. Wo sollte da noch Zeit bleiben für Musik, und Kunst, für Muße und Zeit mit meinem Gott?“

Meine Gitarre ist kein Mensch; sie antwortet nicht mit Argumenten. Ihre Gegenrede ist Musik. Nachdem ich Holz und Metall gereinigt habe, den neuen Saitensatz behutsam aufgezogen, eingestimmt, erzählt sie mir auf ihre Art, was mir gefehlt hat, all die Monate: ‚Wie soll ich dich empfangen und wie begegne ich dir? O aller Welt Verlangen o meiner Seelen Zier.‘

Unwillkürlich habe ich das alte Adventslied angestimmt und schon zeigen wir, was in uns steckt. Obertonreich und klar öffnet sie mir verschlossene Türen meiner Seele. Als spielte sie mit mir in einer schneebedeckten Winternacht, die jedes Nebengeräusch verschluckt. Wie habe ich das vermisst!

Wäre Gott vielleicht kein Deejay, sondern Gitarrist, und ich das krumme Holz in seiner Hand, dann wünschte ich, er möge mir zu dieser Weihnacht neue Saiten schenken. Bevor die Stimmung kippt, denn es ist Zeit, dass er die viel zu lang verstummten Töne in mir weckt: die Kunst, das Spiel, die Nähe. Denn, wie sagt Jesus zu dem, der ihn versucht: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Munde Gottes geht.“