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Neid

„Ich erkenne mein Kollegium nicht wieder. Was habe ich ihnen denn getan?“ Sofia ist ratlos. Seit die junge Lehrerin befördert wurde, hat sich alles verändert. Sofia ist mit Anfang Dreißig Abteilungsleiterin geworden. Seitdem spürt sie die kalte Schulter der anderen.  Distanz – bis hin zur offenen Anfeindung.

Sofia ist begabt, engagiert und verfügt über die nötige Portion Selbstbewusstsein. Vielleicht hat sie auch ein wenig Glück gehabt. Aber sie hat niemanden unfair ausgestochen. Trotzdem reagieren gerade ältere Kolleginnen mit Wut. Für sie gab es lange Zeit kaum freie Stellen. Familie oder Karriere? – vor zwanzig Jahren war das oft noch eine Entscheidung. Nur – dafür kann Sofia nichts. Für den Frust der Kolleginnen ist sie schlicht die falsche Adresse.

Eine der ältesten Geschichten in der Bibel erzählt vom Streit unter Brüdern, Kain und Abel. Am Ende ist Abel tot. Was hat er getan, dass Kain nicht anders konnte, als ihn zu erschlagen?

Es heißt: Beide bringen Gott ein Opfer dar – Kain von den Früchten seines Feldes, Abel von den Tieren seiner Herde. Gott sieht Abels Opfer gnädig an, Kains nicht.

Schon als Kind habe ich mich gefragt, was das eigentlich meint: ‚Gott sieht Abels Opfer gnädig an‘. Gab es für Abel im kommenden Jahr reichlich Nachzucht? Und wurde Kains Ernte durch Gottes Schweigen kleiner? Oder blieb für ihn nur einfach alles gleich?

Wie auch immer: Abel hat in diesem Augenblick bei Gott Erfolg und sein Bruder nicht.

Ich sage hier mit Absicht „und“. Ich hätte auch sagen können „aber“. Also: Abel hat Erfolg, aber sein Bruder nicht. Doch Abels Erfolg und Kains Nichterfolg sind zwei eigenständige Ereignisse, darum sage ich „und“ – und nicht „aber“. Nur der zeitliche Zusammenhang und die Tatsache, dass Kain und Abel Brüder sind, legt den Vergleich der Reaktionen Gottes nahe. Das Wörtchen „aber“ konstruiert daraus einen Gegensatz. Als stünde beiden Brüdern die gleiche Zuwendung Gottes im selben Moment zu. Tut sie das?

Das Leben unter der Sonne ist voll von Kain und Abel-Momenten. Die einen bekommen etwas, was die anderen nicht bekommen. Aber muss ich es als ungerecht bewerten, dass ein anderer im Augenblick mehr vom Leben hat als ich. Hab‘ ich denn zu wenig?

Zurück in die Geschichte: Gott sieht Kains Opfer nicht gnädig an. Kain ist enttäuscht. Aus seiner Enttäuschung wird Wut. Wut auf wen?

Kain ist im Grunde auf Gott wütend, weil Gott ihm die Anerkennung versagt. Aber Gott ist für Kain unerreichbar. Da fällt sein Blick auf Abel, und plötzlich steht die ganze Ungleichheit des Lebens zwischen den beiden Brüdern und trennt sie. Kain wendet seine Wut auf Gott gegen Abel, seinen Bruder. Ein emotionaler Kurzschluss. Ein Übersprung, so alt wie die Menschheit: Kain ist neidisch.

Ich finde Kains Neid zwar verständlich, aber unbegründet. Abel hat Kain nichts getan und Gott… Gott ist Kain nichts schuldig. Es ist alles sein Geschenk: das Leben, das Glück und das Pech, Sonne und Sturm, Freude und Leid. Der Mensch hat auf das Leben keinen Anspruch.

Schade, dass Abels Erfolg Kain unerträglich wird. Und eine Tragödie, dass Kains Opferrolle ihm am Ende die Begründung liefert, Abel um sein Leben zu bringen.

„Ich erkenne mein Kollegium nicht wieder“, sagt Sophia. Der Neid, den sie erfährt, ist so ein altes Stück. Aber es wird gespielt, immer und immer wieder. Im Betrieb, in der Familie und noch in ganz anderen Dimensionen. Wo der Neid seine Geschichte erzählen darf, sein Märchen vom „ich komme hier zu kurz“, da werden Herzen eng und Tyrannen zu Präsidenten gemacht. Durchschauen wir das alte Stück mit Großzügigkeit und Dank, sonst erkennen wir am Ende unsere Welt nicht wieder.