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Nach Hause kommen

Am Kühlschrank hängt ein alter Briefumschlag. Auf dem steht: „Ich will nach Hause.“ Es steht dort auf Englisch, auf Deutsch und auf Arabisch. Majid hat die drei Sätze aufgeschrieben, denn er will nichts sehnlicher als heimkommen. Majid, der einsame Junge auf dem Schulhof. Majid, der Fünfzehnjährige aus Damaskus, dem niemand Antwort gibt, wann er das kann – nach Hause kommen. Er ist bei uns zu Hause gewesen. Meine Jungs sind in seinem Al­ter. Basketball, Brettspiele, Verständigungsversuche. Dafür haben wir den alten Briefumschlag beschrieben, mit Sätzen in drei Spra­chen. In Erinnerung bleibt uns dieser eine, der wohl alles sagt, was Majid im Moment denken kann: „I want to come home.“

Ich überlege, wie es weitergehen soll mit Majid. Im Advent haben wir uns kaum gesehen, wegen all der Arbeit. Schnell waren zwei, drei Wochen vorbei, in denen Majid kaum mit Deutschen in Kontakt gekommen ist. Abgesehen von den Betreuern seiner Wohngruppe. Auf dem Schulhof bleiben die Flüchtlingskinder oft für sich. Wie soll der Junge sein Heimweh überwinden? Wie soll er hier nach Hause kommen, in diesem Land, in dem kaum einer Zeit hat? Habe ich Zeit?

Ich denke an die Bibel, an Momente der Entscheidung. Wenn Je­sus Menschen in die Nachfolge ruft, dann meint er es ernst. Si­mon und Jakobus lassen Boot und Netze stehen, werden Men­schenfischer. Jesus zwingt den Blick auf das zu richten, was jetzt dran ist. „Lass die Toten ihre Toten begraben“, sagt er einem Trauenden, der um Aufschub bittet. Die Tradition spricht an sol­chen Stellen vom Kairos, dem Moment der Entscheidung. Ist 2016 so ein Moment? Ich staune, wie viele Bekannte sich einer Flüchtlingshilfegruppe angeschlossen haben, Christen, Atheisten – ganz egal. Sie haben sich gesagt: Was wir gerade erleben, ist ein Kairos. Wenn diese gewaltige Aufgabe der Integration gelingen soll, dann muss unser Alltag eine Weile warten. Dann muss Anderes liegen bleiben. Drunter geht es nicht.

“I want to come home“, schreibt Majid. Gut! Wenn nicht in Damaskus, dann soll er hier bei uns nach Hause kommen dürfen. Majid und die 55 anderen in meiner Schule. Dann muss aber auch ich etwas stehen und liegen lassen. Drunter geht es nicht.