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Mütter sterben nicht

„Mütter sterben nicht, gleichen alten Bäumen! In uns leben sie und unseren Träumen. Wie ein Stein den Wasserspiegel bricht, zieht ihr Leben in dem unseren Kreise. Mütter sterben nicht, Mütter leben fort auf ihre Weise.“

Diese Trauerworte eines anonymen Dichters hat mir eine alte Bekannte vor wenigen Wochen auf ihrer Beileidskarte zum Tod meiner Mutter geschickt. Es bewegt mich bis heute, dass viele Menschen, die Anteil am Tode meiner Mutter nahmen, den Tod ihrer je eigenen Mutter beschrieben haben. Eine Freundin hat beispielsweise erzählt, wie sie auch noch viele Jahren nach dem Tod ihrer Eltern in vielen Lebenssituationen daran denkt, wie diese wohl gedacht, geurteilt und entschieden hätten. Sie empfindet dies nicht als Belastung, sondern als Hilfe für ihren Alltag und ist dankbar dafür.

Meine Mutter ist im gesegneten Alter von 96 Jahren gestorben. Viele Ratschläge konnte und wollte sie mir längst nicht mehr geben. Aber allein die Tatsache, dass sie da war, ist für mich wichtig und Trost dazu gewesen. Bei ihr konnte ich manches erzählen, was mich belastet hat. Auch wenn ich Fehler gemacht habe – nie hat sie mich verurteilt oder ihre grundlegende Solidarität aufgekündigt. Sie hat mich spüren lassen, dass sie mich bedingungslos annimmt. Das Bild der tröstenden Mutter ist so stark, dass es in der Bibel für Gott selbst verwendet wird: Im Buch des Propheten Jesaja heißt es: „Gott tröstet uns, wie einen eine Mutter tröstet.“ Es ist ein Trost, wenn wir uns auch nach dem Ableben der Mutter an sie erinnern. Wenn in bestimmten Situationen in unserem Leben plötzlich Erinnerungsfetzen hochkommen. Wenn wir vielleicht manchmal erst nach Jahren des eigenen Reiferwerdens verstehen, was sie mit diesem oder jenem gemeint hat und wir erst dann verstehen lernen.

Der Schriftsteller Peter Härtling hat dafür den Begriff der „nachgetragenen Liebe“ geprägt. Die Liebe, die uns zuwächst, wenn wir in späteren Jahren im Umgang mit den Eltern früher Erlebtes einzuordnen vermögen – und wir sie dann erneut zu lieben lernen. Diese „nachgetragene Liebe“ lässt uns an die gemeinsam erlebten schönen Tage denken: Wir weinen nicht, dass sie vergangen sind, sondern lächeln, dass sie gewesen sind.