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Missbrauch in der Evangelischen Kirche

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Ich weiß, dass, wenn man auf andere zeigt, drei Finger auf einen selbst zeigen. Trotzdem habe ich geglaubt, dass ich als evangelischer Pfarrer beim Thema Missbrauch achselzuckend auf die katholische Kirche verweisen könnte. Das ist seit heute nicht mehr so. Sexualisierte Gewalt in meiner Kirche. Verübt an Kindern und Jugendlichen, Jungen und Mädchen, Seelsorge-Klienten, Schutzbefohlenen in kirchlichen Einrichtungen. Verübt von Geistlichen, Jugendmitarbeitern, Erzieherinnen. Das zeigt die heute vorgestellte Studie zu sexualisierter Gewalt im Bereich der evangelischen Kirche in Deutschland. Es gibt nichts zu beschönigen, nichts zu relativieren: Menschen haben evangelischen Geistlichen in den Kirchengemeinden vertraut, auch Mitarbeitenden in diakonischen Einrichtungen – und sind missbraucht worden. In erschreckendem Ausmaß. Danach wurde weggeschaut und vertuscht, Betroffenen wurde nicht zugehört, nicht geglaubt und am schlimmsten: viele Jahre lang keine Strategie, wie neue Fälle zu vermeiden sind. Die evangelische Kirche hat sich versündigt an den Menschen, an Jesus, der nach meinem Glauben gerade in diesen Opfern von Gewalt gegenwärtig ist. Das ist die Mitte christlichen Glaubens! Doch: Mit der Macht des Amtes wurde Vertrauen ausgenutzt, Gewalt ausgeübt, Wahrheit verschwiegen, Gerechtigkeit verweigert. Deshalb glauben uns viele nichts mehr von dem, was wir erzählen. Wenden sich angewidert ab. Wie der Vater, der mir erzählt von seiner Tochter, die als 13jährige bei einer Jugendfreizeit auf dem Schoß eines Pfarrer-Kollegen sitzen sollte. Mit dieser Studie ist nur ein Anfang gemacht. Es muss weitergehen, Betroffene haben ein Recht auf umfassende Aufklärung, auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit. Es muss endlich aufhören, dass dem Ansehen der Kirche ein höherer Stellenwert eingeräumt wird als dem, was die Betroffenen erzählen. Sexualisierte Gewalt muss benannt, dokumentiert und – anerkannt werden. Auch wenn die Taten verjährt sind. Konsequenzen für die Zukunft sind von meiner Kirche gezogen worden: So habe ich eine Fortbildung „Prävention sexualisierte Gewalt“ absolviert: Wie erkenne ich die Anzeichen, wie beuge ich vor, was ist zu tun bei Verdachtsfällen. Diese Fortbildung ist seit einigen Jahren Pflicht: für Kirchenvorstand, Pfarrer, Jugendmitarbeiter, Kindergottesdiensthelferin, Erzieherin, Sozialarbeiter. Zusammen mit anderen Maßnahmen ein Anfang, wie gesagt, mehr nicht. Das macht aber nichts wieder gut von dem, was Betroffene über Jahrzehnte erleben mussten. Hinter jedem Fall stehen erlittenes Unrecht und Leid der Betroffenen sowie Schuld und Versagen von Verantwortungsträgern meiner Kirche. Die Täter sind noch nicht benannt. Die moralische Talsohle ist noch nicht erreicht, weil wir uns versündigt haben an Menschen und am Kern unserer Botschaft.

 

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