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Menschen wie wir

Was haben die sich eigentlich gedacht? Immerhin hatten sie ihm zugejubelt, als er in Jerusalem eingetroffen ist. Sie haben also Hoffnung mit ihm verbunden: dass sich die Zustände ändern, dass mit ihm das neue Reich Gottes auf Erden errichtet wird. Das gesellschaftliche System sollte sich verändern. Die Zeit war reif. Für einen Wechsel. Der römische Einfluss sollte endlich gebrochen werden. Von heute auf morgen. Eine Lichtgestalt. Das war er für sie.

Dabei war sein Einzug in die Stadt alles andere als eine große Demonstration seiner Macht und Stärke. Auf einem Esel ist er durch das Stadttor geritten. Man muss sich das vorstellen: auf einem Esel! Seine Kleider waren sicherlich auch nicht auf dem neuesten Stand, eine lange Wanderung lag hinter ihm. Und diejenigen, die ihn begleiteten, sahen sehr wahrscheinlich weder vertrauenserweckend aus noch konnte man viel, wenn überhaupt etwas über sie erzählen. Jedenfalls waren es keine Engel, die mit Posaunen den Heiland ankündigen. Kein Heer von Untergebenen, die laut ausrufen, wer da kommt.

Das haben sie selbst übernommen. Die vielen Menschen am Straßenrand. Sie waren es. Sie haben ihm Kleider und Zweige auf den Weg gelegt. Und ihm zugejubelt. Mit den Worten, die zu jedem Wallfahrtsfest gerufen wurden: Hossiana! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Gelobt sei das Reich unseres Vaters David, das da kommt! Hossiana in der Höhe!. Hossiana! Das war das, was sie von ihm ganz konkret erwartet haben: Hossiana. Übersetzt: Hilf doch. Das war ihre Hoffnung. Dass er hilft. Alles zu verändern. Die Zustände, das gesellschaftliche System. Die Vorherrschaft der römischen Besatzer.

Nur: Wenn das ihr Ansinnen war, warum haben sie ihn nur mehrere Tage später an genau dieselben Besatzer ausgeliefert? Warum folgte auf das „Hossiana! Hilf doch!“ das „Kreuzige, kreuzige ihn!“? Was haben sie sich eigentlich gedacht?

Aus der Entfernung lässt sich da schnell etwas sagen. Aus der Sicht des Beobachters: Da ist eine Menschenmenge, die etwas Überirdisches erwartet. Die eine Lichtgestalt braucht, der man folgen kann. Ohne groß nachzufragen. Jesu Ruf eilt ihm voraus. Dazu reicht, was man bisher von ihm schon alles gehört hat: Bedeutende Reden hat er gehalten, Streitgespräche geführt, sich auch mit wichtigen Personen, mit Autoritäten auseinandergesetzt. Und: er soll Menschen geheilt haben. So einem muss man doch folgen. Hosianna. Hilf doch! Heißt in diesem Fall auch „Hosianna!“  „Mach doch, wir folgen dir nach“.

Ja, aus der Sicht des Beobachters ist das ganz einfach. Da sieht man nur Leute, die nicht selbst denken, sondern sich auf das verlassen, was andere denken. Und wie andere handeln. Wer sich so schnell zu dem einen Urteil verführen lässt, den kann man auch ebenso schnell vom Gegenteil überzeugen. Nämlich dann, wenn die Erwartungen nicht erfüllt werden. Wenn die Lichtgestalt sich als Mensch entpuppt. Einer hat genau das auf den Punkt gebracht: „Seht, welch ein Mensch!“

Ja, er war ein Mensch. Jesus von Nazareth. Genau so wie diejenigen, die mit ihm unterwegs waren. Und ebenso auch wie die Menge, die ihn dort in Jerusalem empfangen hat. Und diejenigen, die seinen Tod miterlebten. Menschen. Alles Menschen, so wie wir.

Und genau das ist auch der Grund, weshalb es gut ist, den Blickwinkel zu wechseln. Ich weiß nicht, ob diejenigen, die zuerst Hosianna gerufen haben, wirklich dieselben waren, die seinen Tod am Kreuz einforderten. Ich weiß ebenso wenig, ob sich tatsächlich alle daran beteiligt haben. Beides wird kaum so gewesen sein. Es steht mir nicht zu, heute ein Urteil zu fällen über die Leute damals. Es gab Menschen, die sehr unterschiedlich auf das reagierten, was da geschehen ist. Mit Wut, mit Angst, mit Hoffnungslosigkeit. Der einzige, dem ein Urteil zugestanden hätte, war Jesus selbst. Und der hat gesagt: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.