Beiträge

Melitta

Melitta war siebzehn Jahre alt, als sie aus Kasachstan nach Deutschland  gekommen ist, zusammen mit ihren Eltern  und  ihren  beiden jüngeren Geschwistern. Von ihrer Abstammung her war sie deutsch, aber wie viele andere Aussiedler aus dem Osten  konnte sie besser russisch sprechen als deutsch – jedenfalls anfangs. Doch  Melitta war eine gute Schülerin. Schon  bald konnte sie auf ein  Gymnasium  gehen.

Ich  habe sie kennengelernt, weil sie sich von mir als evangelischem Pastor  unterrichten lassen wollte –  im christlichen Glauben. Melitta wollte sich  konfirmieren lassen  – wie andere Jugendliche auch.  Aber  für den  Unterricht in einer „normalen“ Konfi-Gruppe war sie schon zu alt. Schließlich war sie ja schon eine junge Frau. Darum haben wir uns wöchentlich  in  meinem Studierzimmer getroffen, sozusagen zu einem Privatunterricht. Wir haben uns dabei über Gott und die Welt unterhalten, und Melitta hatte oft mehr zu fragen als ich ihr antworten konnte.

Nach einem Jahr wurde sie in einem festlichen Gottesdienst zusammen mit anderen Jugendlichen konfirmiert. Da war Melitta neunzehn Jahre alt. Anschließend haben wir uns aus den Augen verloren.

Aber zwei Jahre später hat sie sich wieder bei mir gemeldet. Sie hatte inzwischen ihr Abitur gemacht, mit Russisch als Fremdsprache. Jetzt wollten sie und  ihr Freund heiraten.  Er hieß  Andreas und  stammte wie Melitta aus Kasachstan.Wir haben dann zu dritt das Traugespräch geführt, bei dem wir alles besprochen haben, was uns für die Trauung  in der Kirche wichtig war. Zum Schluss hatte Melitta  noch eine Bitte an mich. Sie sagte:

Könnten Sie mich bei der Trauung  mit meinem richtigen Vornamen ansprechen?! Ich heiße nämlich gar nicht Melitta. Richtig heiße ich Ludmila. Alle meine Freundinnen und  Verwandten kennen mich nur als Ludmila. Es wäre komisch, wenn Sie mich mit Melitta anredeten.

Ich war platt.  Da kannte ich diese junge Frau schon seit  Jahren  unter dem Namen Melitta. Als Melitta hatte ich sie unterrichtet, als Melitta hatte ich sie konfirmiert. Und erst jetzt erfuhr ich ihren richtigen Namen.

Wie war es zu dem Namenswechsel gekommen?

Damals, bei der  Einreise in  Deutschland,  war ihr  von einer  Beamtin  gesagt worden, Ludmila sei kein deutscher Vorname.  Es sei für sie wahrscheinlich besser, zusätzlich einen deutschen Namen zu tragen.  Der Vorschlag der Beamtin war: Melitta.  Das klinge ja so ähnlich wie Ludmila.

Was blieb der jungen Frau anderes übrig,  als diesen Vorschlag zu akzeptieren?!  Musste sie nicht  froh sein, dass sie mit ihrer Familie in Deutschland  überhaupt aufgenommen wurde.  . Sie wusste damals  nicht, dass  Melitta  bei uns eher Kaffee-Produkte als einen  weiblichen  Vornamen  bezeichnet.  Seitdem hat sie  jedenfalls  zwei  Vornamen benutzt.  Für die Behörden  und  auf  offiziellen Dokumenten war sie Melitta, für ihre Freundinnen  wie  für  ihre Verwandten aber Ludmila.

Natürlich habe ich  ihrer Bitte entsprochen und sie bei  ihrer  Hochzeit  in der Kirche mit Ludmila  angeredet.   Aber ich frage mich:  Was muten wir eigentlich  Menschen aus dem Osten zu, wenn wir ihnen einen  russischen Vornamen wegnehmen oder  auch nur ersetzen?  Es mag von  deutschen  Behörden  ja  gut gemeint sein, als Hilfe vielleicht zur besseren  Eingliederung in unsere Gesellschaft.  Aber „gut gemeint“ ist oft das Gegenteil von „gut gemacht“.

Nur gut, dass bei Ludmila der innere Widerstand  gegen  ihre  unfreiwillige Umbenennung  im Laufe der Jahre gewachsen  ist.  Der Name eines Menschen ist schließlich  nicht Schall und  Rauch, sondern ein Stück von ihm selber. Das sollten auch deutsche Beamten berücksichtigen.