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Mein Platz

Ein Mann sitzt auf einer Bank vor einem Hotel und wartet auf seine Frau. Sonst sitzt niemand auf dieser Bank. Mit einem Mal steht eine kleine alte Frau vor ihm und sagt ganz ruhig: „Sie sitzen auf meinem Platz!“ Der Mann, der in dieser Gegend fremd ist, könnte nun auf die beiden Plätze neben sich verweisen, die ja leer sind. Er tut das aber nicht. Stattdessen steht er auf und bietet ihr seinen Platz an. Dann setzt er sich auf den Platz am andern Ende der Bank. Die alte Frau dankt ihm und setzt sich auf ihren Platz.  Keiner der beiden sagt mehr ein Wort, bis die Frau des Mannes kommt und ihn abholt. Die alte Frau bleibt sitzen. Auf „ihrem“ Platz. Vermutlich teilte der Mann mit dieser Frau das Gefühl, dass ein bestimmter Platz „mein“ Platz ist. Und respektierte das spontan.

Ich kenne das aus der Kirchengemeinde: Als Pfarrer konnte ich sonntags ziemlich genau voraussagen, wo bestimmte Leute in der Kirche sitzen würden. Offensichtlich brauchen wir das: einen Ort, einen Platz, der uns gehört. Wo wir hin gehören. Als der Wanderprediger Jesus über seine Lebensweise sagte: „Die Vögel haben Nester, aber wir haben keinen Ort, an dem wir uns ausruhen können“ [Luk 9,58], da feierte er diesen Zustand nicht als Freiheit. Er deutete ihn vielmehr als Mangel, als Heimatlosigkeit. Er wusste, dass Menschen einen Ort brauchen, den sie den „ihren“ nennen. Darum ist Obdach- und Heimatlosigkeit für Christen ein Angriff auf unser Menschsein, dem man entgegentreten muss.