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Masurische Elegie

Manchmal wissen Menschen etwas, ohne sich dessen bewusst zu sein. Im Grunde ihres Herzens macht sich eine Einsicht breit, die aber noch nicht an die Oberfläche des Verstandes gelangt. Dann klammern sie sich an das, was ist. Das, was aus der Tiefe an Erkenntnis heraufdrängt, bekommt noch keinen Raum, vielleicht aus Furcht vor Veränderung.

Als die Gräfin Marion Dönhoff 1941 mit ihrer Cousine Sissi von Lehndorff fünf Tage lang durch Masuren galoppiert, weiss sie bereits tief drinnen, dass die Heimat für sie verloren ist. Der fünftägige Wanderritt führt die jungen Frauen an die 200 km durch die Stille Ostpreußens.

Die Frau auf dem massiven Braunen, Marion Dönhoff, hat diese Reise in einem Tagebuch festgehalten. Hat alle Eindrücke, alle Gedanken notiert. Die Pracht der unberührten Natur beschrieben, die Farben der Pflanzen, die Spiegelungen des Lichts, das Schnauben der Pferde, das Trommeln der Hufe auf dem Sandboden Südmasurens. Es muss eine schweigende Landfahrt gewesen sein, die Chronik hat kein einziges Gespräch zwischen den Reiterinnen festgehalten. Dafür jede Begegnung, jeden Anblick  in die Seele aufgesogen voll Wehmut. So wie man den letzten Worten eines Sterbenden mit besonderer Hingabe lauscht, weil man weiß: Es wird bald nichts mehr kommen, nur noch Stille.

Im Osten und Westen fallen die Soldaten, im besetzten Polen werden die ersten Vernichtungslager gebaut. Und in diesem von Schande, Tod und Schmerz bedeckten Deutschland liegt Masuren. Ein sonniges Stück Natur mit seinen bis an den Horizont reichenden Wiesen. Den nicht enden wollenden Wäldern, den Seen und Mooren. Ostpreußen im Herbst 1941. Es muss ein Ritt in die Entrückung gewesen sein, ein ahnungsvolles Abschreiten des Paradieses vor der Vertreibung. Und die Tagebuchnotizen der Gräfin werden zum masurischen Trauerlied, in dem es heißt:

„Ja, dies ist die Zeit des Reifens und der Vollendung und zugleich die Zeit des Abschiednehmens. Wie oft haben wir in diesem Sommer Abschied genommen. Wie jung waren sie alle, Vettern, Brüder, Freunde, so vieles blieb nun unerfüllt, ungetan. Die Natur ist barmherziger. Sie gibt einen langen Sommer zum Reifen und schenkt die Fülle, ehe sie Stück um Stück und Blatt für Blatt wieder zurücknimmt.“

77 Jahre später sind wir das erste Mal mit dem Auto unterwegs in Masuren, der Heimat meiner Mutter. Auch wir wollen uns erinnern und machen uns auf den Weg der Marion Dönhoff, von Allenstein nach Steinort. Kein Abschiedsritt durch ein untergehendes Reich ist das diesmal, sondern eine 200 km lange Fahrt durch das alte Ostpreußen der Gräfin und gleichzeitig durch das moderne Polen. Aber auch wir sind mit gemischten Gefühlen unterwegs und fragen uns immer wieder: Verabschiedet sich Polen von der Demokratie? Das Land ist gelähmt, in Gesprächen mit Menschen vor Ort zeigt sich Angst und Unsicherheit. Wie wird es weitergehen?

Im Kloster Heiligelinde, einem berühmten Wallfahrtsort, lesen wir auf Polnisch ein Wort aus dem 2. Timotheusbrief 1, 7: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Unser Begleiter übersetzt und sagt ganz nebenbei: „Trotz aller bösen Ahnungen im Inneren gibt mir dieses Wort Halt und Kraft. Ja, die Veränderungen in Polen sind furchteinflößend, und vielleicht werden wir bald in einer Autokratie leben. Aber ich vertraue auf Gott, dass er mir dann die nötige Energie und Widerstandskraft geben wird, mit den Herausforderungen umzugehen.“

Was für ein Glaube! So gestärkt, machen wir uns mit Zuversicht auf die weitere Reise durch das Ostpreußen der Gräfin Dönhoff. Unser Begleiter hat uns für heute geholfen, dass wir kein polnisches Trauerlied mehr singen müssen.