Beiträge

Lernen unterwegs

Im Urlaub an der Nordsee kommt mir ein bekanntes Gesicht entgegen, morgens auf dem Weg zum Bäcker. Ich sag mir: „Woher kennst du diesen Menschen? War er nicht dein Tutor, ganz am Anfang vom Studium?“ Bis mir sein Na­me einfällt sind wir schon aneinander vorbei. Aber dann drehen wir uns beide um. „Mensch, dass wir uns hier begegnen! Wie lange ist das her!“

Wir wechseln ein paar Worte. „Wo lebst du und was machst du jetzt?“ Aber das ist nur Oberflä­che. Aus der Tiefe der Erinnerung steigen mir alte Bilder in den Sinn. Sie erzählen mir: „Dieser Mensch hat dir am Anfang deines Studiums Orientierung gegeben. In Unsicherheit und Neuanfang hast du von ihm gelernt.“

Unser Gespräch bleibt kurz, zu kurz für einen Dank, aber die Erinnerung begleitet mich noch lange. Bis ich weiß, warum und wie er mich damals wei­tergebracht hat. Beim nächsten Mal werde ich’s ihm sagen können.

Wer auf Reisen geht, lernt. Nicht nur, weil man fast immer auf alte Be­kannte trifft, die einen zurückschauen lassen. Reisen und Lernen gehören einfach zusammen. Sie stehen als Bilder gegenseitig füreinander. Wie Zwillinge: Reisen ist immer auch Lernen, und Lernen eine Reise. Lebens­zeichen sind sie beide.

Auch die Bibel erzählt von einem Reisenden, der lernt. Aus Äthiopien stammt er. Und er ist schon auf dem Rückweg vom Tempel in Jerusalem, als er dem Leben auf die Spur kommt. Er sitzt auf seinem Wagen und liest im Buch Jesaja. Liest Worte, die er nicht versteht.

Der Reisende ist kein Armer. Er hat eine eigene Kutsche und verwaltet in der Heimat das Vermögen seiner Königin. Aber diese Reise stellt ihn vor Fragen, die er allein nicht lösen kann. Fragen, die über das Buch, das er liest, hinausgreifen auf sein Leben.

An der Straße nach Gaza begegnet ihm der Apostel Philippus. Und Philippus fragt den Fremden: „Verstehst du auch, was du liest?“ Der Äthi­opier verneint und lädt Philippus ein, mit auf den Wagen zu steigen, um ihm das Lied vom Gottesknecht zu deuten. Philippus steigt auf und fährt ein Stück des Weges mit. Ausgehend von Jesaja erzählt er ihm, wer Jesus von Nazareth ist.

Da begreift der Fremde, dass dieses Buch und seine Reise nach Jerusalem die Erklärung zu einem Ereignis sind, das er bisher nicht kannte, ein Weg zum Evangelium von Jesu Leben, Tod und Auferstehung. Zusammenge­nommen ist alles aber die Antwort auf eine Frage, die sich eben erst ge­stellt hat: Wo führt dich dein Glaube hin?

Hier, in der Begegnung mit Philippus und durch das geteilte Stück des Weges, erkennt der Reisende den Sinn seines Unterwegsseins. Sein Leben bekommt eine Wendung, die ihm daheim nicht möglich gewesen wäre. Als beide an ein Wasser kommen, lässt der Reisende sich taufen. Sein Bad in der Quelle symbolisiert und besiegelt zugleich die Veränderung, die sich an ihm vollzogen hat, in diesem Fall den neuen Glauben, den er gefunden hat.

Reisen ist Lernen und lernen eine Reise, Lebenszeichen sind sie beide.

Ich selbst bin heute Lehrer und werde bald ein weite­res Schuljahr beginnen. Auch so eine Art Reise.

Welche meiner Schülerinnen und Schüler sich wohl später noch an mich erinnern? Wem werde ich auf dem Weg ins Leben weitegeholfen haben? Wer weiß?

Es ist an den Lernenden, die wichtigen Begegnungen von den belanglosen zu unterscheiden. Die nämlich, wo der eigene Weg an eine Frage führte, für die es im richtigen Augenblick eine Antwort gab, welche weiterführte.

Und ist es gelungen, dann wird sich die eine oder der andere vielleicht an mich erinnern, wenn wir uns eines Morgens entgegenkommen, Gott weiß wo, auf dem Weg zum Bäcker.