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Marmeladenschatz

Ich liebe Kirschmarmelade. Selbstgemacht und gerade jetzt, so kurz nach dem Pflücken, schmeckt sie mir am besten. Dieses Aroma von spätem Frühling, der in einen großen Som­mer mündet, Bilder von Obstwiesen im Morgenlicht – kleine Momente am Frühstückstisch, unschätzbar wertvoll!

„Genieß‘ die Marmelade“, sagt mein Freund, als ich mich für sein Geschenk be­danke. „Das ist vielleicht das letzte Mal, dass ich welche mache. Jedes Jahr dieser Aufwand! Da steht so viel Obst auf der alten Wiese. Wir können ge­rade einen Bruchteil davon verwerten. Ich muss das Wochenende mit meinen Eltern klären, gegen alle Pläne der Kinder verteidigen. Sams­tags packe ich ganz früh das Picknick, koche Kaffee, bringe die Familie in Bewegung und stehe noch spätabends in der Küche, weil allen die Lust am Einkochen ver­gangen ist. Für ein paar Euro bekomme ich das Glas im Supermarkt. Und schlechter schmeckt es auch nicht.“

Rannten da nicht vor meinem inneren Auge gerade noch lachende Kinder durch hohe Grä­ser? Hoben Großeltern ihre Enkel in die untersten Zweige alter Bäume, naschten mit ihnen auf einer Bank die reifen Kirschen? Als hätte ich auf einen Kern gebissen, zerspringt das Bild und ich spüre all die Müdigkeit, die der Familientag bei meinem Freund abgeladen hat. „Für ein paar Euro bekomme ich das Glas im Supermarkt“, höre ich ihn sagen. Eine Effizienzbe­rech­nung, die ich gut kenne. Meine Zeit ist knapp wie seine. Was ich schneller und günstiger im Laden kaufen kann, das raubt mir keine Zeit. Die brauche ich ja, um all die Früchte meiner Arbeit hervorzubringen, mit denen ich am Ende mehr besorgen kann als nur einfach Marmelade. Den Luxus eines Sams­tags im Obst­garten muss man sich leisten können.

Ein Jesuswort sagt: Sorgt euch nicht um euer Leben. Mit dieser Bibelstelle war ich noch nie im Rei­nen. Sorgt euch nicht, hat Jesus weiter gesagt, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Klei­dung? (Mt. 6,25)

Mich befällt bei dieser Bibelstelle jedes Mal eine seltsame Mischung aus Ärger und Sehn­sucht. Jesus hatte gut reden. Er konnte es sich leis­ten, im Land umher­zuzie­hen und zu hof­fen, dass ihm jemand Brot und Bett anbieten wird. Aber bleibt mir als Nor­malsterblichem nicht oft gar nichts Anderes übrig, als meinen Alltag effizient zu gestal­ten? Mag sein, dass die Vögel unter dem Himmel keine Sämaschine bedienen müssen und die Lilien auf dem Felde keine Textilien kaufen, aber steht nicht auch in der Bibel, wie Adams Kinder im Schweiße ihres Angesichts ihren dornigen Acker bebauen sollen? Schön wäre es, wir hätten alle die Kraft und Zeit zum Kirschenpflücken. Soll ich dem müden Freund verdenken, wenn er Sorge trägt, dass am Ende des Tages die Bilanzen stimmen? Und meine Konfitüre kaufe ich wie alle anderen auch im Supermarkt? Hoffentlich nicht. Denn die Rechnung geht nicht auf. Das ahnen er und ich. Die Effizienz­rechnung kippt, wenn wir uns Menschen wegoptimieren, bis Herz und Seele nicht mehr da sind. Was wird denn am Ende unseres Lebenstages zählen. Welche Ernte wollen wir einfah­ren?

Wenn ich mich frage, warum mich Kirschmarmelade so glücklich macht, dann fallen mir die Kindheitsmomente ein, als meine Eltern und Großeltern Zeit hatten, mit uns zu pflücken und einzukochen. Unschätzbar wert­volle Erinnerungen an den Garten meiner Großmutter, an die Weckgläser in der Speisekammer, an den Geruch im Haus. Schätze, die lebenslang im Herzen bleiben. Sammelt euch Schätze im Himmel, das hat Jesus auch noch gesagt. Ich habe keine Ahnung, ob so ein Samstag im Einmachglas schon als Schatz im Himmel zählt. Aber ich will meinem Freund er­zählen, wie sehr ich seine Marmelade schätze. Und lieber will ich ihm beim Ein­ko­chen helfen, als ihn aufgeben sehen. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.