Beiträge

Kindheitserinnerungen

In den Kleidern der Bauernkinder hängt das Aroma von frisch gemolkener Milch und Silofutter. Sofort habe ich diesen Geruch in wieder in der Nase, als ich vor meiner kleinen Schule stehe. Einen Geruch, den ich nur von hier kenne. Fußbodenöl gehört dazu, eingezogen in alte Holzdielen, die abgetreten sind von vielen Schülergenerationen. Im Sommer strömt der Duft von Lindenblüten durch die geöffneten Klassenfenster, im Winter vermischt sich der Geruch von geöltem Holz mit anderen Düften. Die Nässe von schweren Stiefeln tropft auf die Dielen, die feuchte Wolle selbst gestrickter Pullover dünstet aus. Die knisternde Wärme vom kleinen Kohleofen breitet sich langsam aus und der ganze Schulraum dampft, riecht nach Kuhstall und Stroh, getautem Schnee und Kreidestaub. Der Vater meiner Freundin ist der Lehrer an dieser Zwergschule, so nennt man sie ein bisschen abschätzig, die einklassigen Volksschulen auf dem Lande. Er verteilt die Aufgaben. Getuschel in der hintersten Ecke ahndet der Lehrer mit einem Lineal, mit dem er auf die ausgebreiteten Hände schlägt. Wenig später wickelt er eine Papierspirale um eine Stricknadel und hält sie über eine brennende Kerze. Gespannt schaue ich zu, wie sich das rot-weiße Papier im Wärmestrom kräuselt.

Zur Pause laufen wir durch das moosbewachsene Birkenwäldchen zum Hof hinter dem Lehrerhaus. Die Jungs versuchen uns Mädchen mit kleinen Tannzapfen zu bewerfen, bis der Vater meiner Freundin mit einer Schiedsrichterpfeife dazwischen geht. Nach der Pause gucken wir einen Film. Auf dem Lehrerpult steht der schwarze Filmapparat, gestützt von der großen Kinderbibel und Brehms Tierleben. Die dunkelgrünen Rollos sind heruntergezogen, auf der umgedrehten Landkarte erscheinen Rotkäppchen und der Wolf, schwarzweiß und ohne Ton. Der Lehrer erzählt das Märchen dazu. Anschließend ist die Schule aus. Fünfzig Kinder rattern das Schulgebet herunter. „Unseren Ausgang segne Gott, unseren Eingang gleichermaßen“. Es ist ganz selbstverständlich, dass wir beten. Wir sind eine evangelische Bekenntnisschule.

Meine kleine Schule. Was habe ich dort nicht alles gelernt!  Das ist mir erst viel später bewusst geworden, als mich ein Klassentreffen zurück in das kleine Dorf bringt. Längst ist sie keine Schule mehr, Städter haben darin ihr Wochenendhaus. Aber als ich davor stehe, wird mir deutlich, was dort in mich hineingesät wurde, damit ich wachsen kann. Nicht nur Wissen,  Toleranz, Gemeinschaft und ein Sinn für ursprüngliches Leben. Nicht nur, uns in aller Unterschiedlichkeit zu akzeptieren. Nein, mehr noch! Leise, doch unaufhaltsam hatte ich mir als Schülerin angewöhnt zu beten. In kurzen, stammelnden Worten, halben Sätzen, zunächst im stillen Kämmerlein. Ich fand Kraft darin. Dass ich einmal Theologie studieren würde, ahnte ich nicht.

Die Herausforderungen kamen dann nach dem Ende meines Studiums. Als junge Pastorin führte mich mein Dienst in ein Diakoniekrankenhaus, manchmal aß ich dort in der Kantine. Wenn ich mit meinem gefüllten Tablett an einem der Tische Platz nahm, dann war ich immer etwas unsicher. Soll ich jetzt die Hände falten zum Tischgebet? Oder ist das peinlich? Ich setzte mich ja meist zu anderen Mitarbeitern und wusste nicht, wie ein kurzes Gebet ankommen würde. Anfangs habe ich daher oft auf das Gebet verzichtet. Aber irgendwann hat sich das geändert. Ich habe den Mut gefunden, auch in der Kantine vor jedem Essen die Hände zu falten und zu beten. Ganz selbstverständlich. Und plötzlich fanden es dann auch die anderen Mitarbeiter ganz normal und haben mitgebetet. Oft habe ich während dieser Tischgebete an die Gebete als Schülerin erinnert und an meine kleine Schule. Wie sehr hat sie mich geprägt.