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Johanna Spyri, die Schöpferin von Heidi

„Vom freundlich gelegenen alten Städtchen Mayenfeld aus führt ein Fußweg durch grüne, baumreiche Fluren bis zum Fuß der Höhen, die von dieser Seite groß und ernst auf das Tal herniederschauen. (…) Auf diesem schmalen Bergpfade stieg am hellen, sonnigen Junimorgen ein großes, kräftig aussehendes Mädchen dieses Berglandes hinan, ein Kind an der Hand führend, dessen Wangen in solcher Glut standen, dass sie selbst die sonnverbrannte (…) Haut des Kindes flammenrot durchleuchtete.“

Mit diesen Zeilen beginnt ein Kinderbuch, das in fünfzig Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt wurde. Es erzählt – na, haben Sie es erkannt? – von Heidi und vom Alm-Öhi, vom Geißenpeter und seiner Großmutter und von der Familie Stresemann mit Tochter Klara im fernen Frankfurt.

Geschrieben hat das Buch die Schweizerin Johanna Spyri. Sie ist am 12. Juni 1827 geboren, heute vor 194 Jahren.

Johanna Spyri wuchs in einem christlich geprägten Elternhaus auf. Die literaturbegeisterte junge Frau heiratete und bekam einen Sohn. Die Ehe aber war unglücklich, und Johanna litt lange unter Depressionen. Ein Freund ermutigte sie schließlich zu schreiben. Nach ersten Erzählungen landete sie – da war sie schon Anfang fünfzig – mit „Heidi“ einen so großen Erfolg, dass sie nach dem Tod ihres Mannes ein komfortables Leben führen konnte.

Johanna Spyri wird eine Frömmigkeit bescheinigt, die zunächst befremdlich anmutet. In ihrer Erzählung “Ein Blatt auf Vronys Grab” geht es um eine Frau, die von ihrem Mann misshandelt wird. Auf Anraten des Pfarrers fügt sie sich betend in ihr Schicksal. Aus heutiger Sicht eine unerträgliche Geschichte.

Auch in „Heidi“ gibt es einen religiösen roten Faden. Aber fein gesponnen und berührend. Es sind die beiden Großmütter in der Geschichte – die vom Geißenpeter und die von Klara -, die die Kinder ermutigen, zu beten. Zugleich bestärken sie sie darin, für die Erfüllung ihrer Träume zu kämpfen. Auch Dankgebete spielen eine Rolle: Als Heidi zurück in den Alpen ist, jubelt sie angesichts der in das Abendlicht getauchten Berge, dass Gott „alles noch viel, viel schöner gemacht habe, als sie es je gewusst“ habe.

Johanna Spyri war nicht einfach eine Frömmlerin, sondern sie war sehr naturverbunden. Sie hat eine größere Kraft hinter den Dingen gespürt, die auch in schweren Zeiten tragen kann. Der Schöpferin des freiheitliebenden Mädchens Heidi war es wichtig zu zeigen, dass Gottvertrauen hilft, den Alltag zu bewältigen.

Ich erinnere mich, wie ich in meiner Kindheit lange Zeit abwechselnd die Geschichten von Pippi Langstrumpf und von Heidi gelesen habe. Ich habe beide Figuren geliebt: die rotzfreche, laute und überaus weltliche Pippi und die fröhliche, warmherzige und auch mal fromme Heidi. Sie haben unterschiedliche Seiten in der kindlichen Leserin angesprochen, die energische und die sinnliche, die rationale und die spirituelle. Unterschiedliche Seiten, die kein Widerspruch sind, sondern nur gut zueinander finden müssen.

Was bleibt heute von Johanna Spyri – 194 Jahre nach ihrer Geburt? Sie hat Kinderbuchfiguren und Geschichten geschaffen, die ihresgleichen suchen. Durch ihre noch spät ausgelebte schriftstellerische Berufung ist sie schon zu Lebzeiten zu einem wichtigen Vorbild für Frauen geworden.

Ich glaube, es lohnt sich, dieser Schriftstellerin auch heute wieder nachzuspüren. Dafür aber wird man in den Originalsound ihrer Bücher hineinlesen müssen. Den Nuancen ihres Werks wird man in den Zeichentrickfilmen und Heidi-Verfilmungen, mögen manche auch ganz gut gelungen sein, nicht auf die Spur kommen.

Warum nicht auch als Erwachsene mal wieder ein Kinderbuch in die Hand nehmen? Gleich heute, am Geburtstag von Johanna Spyri.