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Jesus macht nicht mehr mit.

Wie wird sie nächstes Wochenende begangen werden, die erste Kriegs-Weihnacht in Europa seit 1945? In der Ukraine wohl kaum als „Stille Nacht“, wenn die Bomben fallen und die Raketen einschlagen. Die Botschaft vom „Frieden auf Erden“ wird sicher nicht nur dort wie Hohn klingen. Und kann ich als Pfarrer etwa glaubhaft predigen: „Fürchtet Euch nicht, denn, siehe, ich verkündige Euch große Freude!“?

Meine Kriegserinnerungen kommen hoch. Ich gehöre zur „vaterlosen Generation“, die in der Nachkriegszeit in Ruinen gespielt und auch noch Hunger gekannt hat. Das möchte ich nicht noch einmal erleben!

Mir ist wieder Wolfgang Borchert eingefallen, jener Hamburger Soldat und Kriegs-Heimkehrer. Er starb vor 75 Jahren einen zu frühen Tod mit gerade einmal 26. Seinen Krankheiten und Kriegsverletzungen rang er als Schriftsteller nach 1945 nur noch mühsam zwei gehetzte Jahre zur Vollendung seines literarischen Werkes ab.

Und dann erinnere ich mich an die 80er Jahre. Borcherts pazifistisches Manifest „Dann gibt es nur eins!“ wurde zum flammenden Appell auf den Flugblättern der Friedensbewegung. Das traf mich als Pfarrer persönlich, zumal ich vom „Frieden schaffen ohne Waffen“ überzeugt war:

„Du, Pfarrer auf der Kanzel, wenn sie dir morgen befehlen, du sollst den Mord segnen und den Krieg heiligsprechen, dann gibt es nur eins: sag NEIN!“

Und am Ende seines Textes warnt Borchert, Auschwitz und Hiroshima vor Augen, eindringlich:

„Denn, wenn ihr nicht NEIN sagt… dann wird der letzte Mensch… einsam unter der giftig glühenden Sonne umherirren… und seine furchtbare Klage: WARUM? wird ungehört durch die Ruinen wehen, antwortlos versickern im Schutt der Kirchen…“

Damals las ich auch seine Kurzgeschichte „Jesus macht nicht mehr mit“. Sie erzählt von einem einfachen Soldaten, der sich in frisch ausgehobene Gräber selbst hineinlegen muss. Zur Probe, ob sie auch passen für seine gefallenen Kameraden. Eines Tages macht er nicht mehr mit. Und einer fragt: „Und was machen sie dann mit ihm?“ Sein Unteroffizier antwortet: „Ich muss ihn beim Kompaniechef, dem Alten, melden. Das ist Dienstverweigerung – und Gräber müssen sein. Aber der Alte hat jedes Mal seinen Spaß an dem verrückten Kerl. Er brüllt ihn zusammen und lässt ihn laufen.“  „Aber warum heißt er eigentlich Jesus?“, grinst ein anderer. „Der Alte nennt ihn so, weil er so sanft aussieht.“

Durchaus treffend: Der sanfte Jesus der Bergpredigt hat die Eskalationsspirale von Hass und Unterdrückung, Krieg und Gewalt auch nicht mehr mitgemacht.

Wie hätte Borchert wohl auf die Krisen und Kriege unserer Zeit reagiert? In dem Theaterstück „Draußen vor der Tür“, seinem bekanntesten Werk, wird er jedenfalls zum Ankläger seiner Gesellschaft, die den Tod selbst, den so viele in Krieg und Gefangenschaft erleiden mussten, ungerührt zum „neuen Gott“ gekürt hat. Borchert reibt sich immer wieder in seinem Werk an der Gottesfrage wund:

„Warst Du in Stalingrad lieb, lieber Gott? Wo warst Du eigentlich, als die Bomben brüllten, lieber Gott? Du warst einfach nicht da, lieber Gott!“

Borchert bleibt aber nicht hoffnungslos: zwar ist für ihn Gott abwesend und am Ende, nicht aber die Liebe des Menschen.

Ich möchte seinen Fragen nicht ausweichen, aber kann ich, gegen den Augenschein, wirklich annehmen, dass die menschliche Liebe in unserer Welt über das Böse siegt?

Borchert versucht aufgrund seiner eigenen Erfahrungen deutlich zu machen, dass wir im Bonhoeffer‘schen Sinne leben müssen, „als ob es Gott nicht gäbe“. Ich verstehe sein Werk daher als „nichtreligiöse Interpretation“ von Bonhoeffers Feststellung. „Gott ist mitten in unserem Leben jenseitig“. Für mich ist der abwesende Gott in Christus allerdings als der mitleidende und liebende Gott offenbar und erfahrbar geworden.

Was passt daher besser zum Advent als Borcherts vorsichtige Hoffnung auf eine neue Gotteserfahrung:

„Vielleicht sind wir eine Generation voller Ankunft auf einem neuen Stern, in einem neuen Leben… Vielleicht sind wir voller Ankunft zu einem neuen Lieben, zu einem neuen Lachen, zu einem neuen Gott?“