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I-Dötzgen

Mein erster Schultag.

Ich bin stolz!

Ich lerne jetzt rechnen, schreiben und lesen.

Ich bin jetzt groß!

Mein zweiter Schultag.

In der Pause stehen wir Erstklässler noch ein wenig ratlos herum.

Dann umringen uns Zweitklässler, zeigen mit den Fingern auf uns und rufen:

„I-Dötzgen, Kaffeeklötzgen, I-Dötzgen, Kaffeeklötzgen!“

Ich weiß bis heute nicht, was ein I-Dötzgen ist. Aber ich habe sofort verstanden, was es bedeutet: Häme! Ihr seid die Kleinen! Ihr seid gar nichts!

Das war bitter. Ich war gedemütigt und wütend.

Ein Jahr später.

Mein zweiter Schultag in der zweiten Klasse.

In der Pause sehen wir die Erstklässler.

Wir Zweitklässler bauen uns vor ihnen auf, zeigen mit den Fingern auf sie und rufen: „I-Dötzgen, Kaffeeklötzgen, I-Dötzgen, Kaffeeklötzgen!“

Ja! Endlich Rache! Endlich Genugtuung! Andererseits: Da wurde eine üble Tradition auch durch mich weitergeführt. Aber: Hätte ich sie überhaupt durchbrechen können – ohne Hilfe?

Ich weiß, dass es heute an Schulen andere Traditionen gibt. Jedes Mädchen und jeder Junge aus der ersten Klasse bekommt ein Mädchen oder einen Jungen aus den höheren Klassen zugeteilt. Die Größeren kümmern sich in der Anfangszeit um ihre jeweiligen Erstklässler. Sie zeigen ihnen, wo das Lehrerzimmer ist – und erklären, wie das mit den Hausschuhen geregelt ist. Sie begleiten auf dem Schulweg und helfen bei den Hausaufgaben. Manchmal entstehen daraus Freundschaften.

Und ein Jahr später werden aus den Erstklässlern selber Große, die den Kleinen ein bisschen helfen können.  Und das fühlt sich bestimmt richtig gut an. Schade, dass es das zu meiner Schulzeit noch nicht gab.