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Großes entsteht immer im Kleinen

Morgen ist es wieder soweit: der Tag der Saarabstimmung vom 23. Oktober 1955. Da lehnten 67 Prozent der SaarländerInnen das sog. „Saar-Statut“ ab, mit dem ihr Land einen quasi-autonomen, europäisierten Status erhalten sollte. Dies war das Ergebnis eines deutsch-französischen Abkommens ein Jahr zuvor.

Zu wem das Saarland endgültig gehören sollte, darüber hatten sich Deutschland und Frankreich noch nicht verständigt. Der 23. Oktober war aber im Nachhinein doch so etwas wie die Geburtsstunde des neuen Bundeslandes. Die „kleine Wiedervereinigung“ wurde dann vor 65 Jahren, am 1. Januar 1957, offiziell vollzogen.

Ich erinnere mich noch ganz genau: ich war 1955 elf Jahre alt, als ich im Wahlkampf – wie viele meiner Mitschüler an einem St. Ingberter Gymnasium – kleine rote Schildchen auf die Rücksitze von Bus oder Bahn klebte. Sie waren allgegenwärtig, auch an Gebäuden, Fabriktoren und Plakatwänden. Und lustig sahen sie auch irgendwie aus – mit der pausbäckigen Karikatur des damaligen Ministerpräsidenten des Saarlandes, Johannes Hoffmann, der für das Saarstatut war. Um das zu verhindern, stand auf den roten Schildchen, die wir Schüler klebten, „Der Dicke muss weg!“ Mit diesem einprägsamen Slogan führten die Gegner der Autonomie ihren Kampf. Noch in der Wahlnacht trat „DER DICKE“ als Ministerpräsident zurück.

Frankreich respektierte den Mehrheitswillen der Bevölkerung. Damit war der Weg frei für die Rückgliederung des Saarlandes. Wer für das Saar-Statut gestimmt hatte, sah in ihm eine Brücke zur deutsch-französischen Verständigung und einen Schritt hin zu einer europäischen Friedensordnung. Wer dagegen gestimmt hatte, tat es aus Vaterlandsliebe und weil er an der deutschen Identität festhalten wollte. Diese Gegensätze spalteten Familien, Freundschaften, Vereine und Parteien: die einen galten als „Separatisten“, die anderen als „Chauvinisten und Nationalisten“ – und beide Seiten droschen in einem äußerst harten Abstimmungskampf nicht nur verbal aufeinander ein!

Verwunderlich war das nicht: Zwanzig Jahre zuvor hatte dieselbe Generation schon einmal darüber entschieden, wohin das Saarland politisch sollte – zu Frankreich, autonom bleiben als ein Gebilde des Völkerbundes oder, wie es dann tatsächlich kam, „Heim ins Reich“. So hieß der damalige, erfolgreiche Wahlkampf-Slogan, der 1935 auch mit theologischen Argumenten von der Kirche unterstützt wurde. Eine Reihe von evangelischen Pfarrern hatte sich sogar in einer Anzeige in der „Saarbrücker Zeitung“ für dieses Votum ausgesprochen.

Und 1955 riefen nun teils dieselben evangelischen Pfarrer, darunter auch mein damaliger Religionslehrer, in einem Flugblatt zur Ablehnung des Saar-Statuts auf. Ihr Argument war unverändert wie 1935: die nach Gottes Wille bestehende Gemeinschaft mit dem deutschen Volk dürfe nicht verleugnet werden und endete mit einem frommen Wunsch: „Gott wende … unsere Entscheidung zum Segen durch die endgültige Heimkehr der Menschen an der Saar zum angestammten deutschen Volke! Das walte Gott in Gnaden!“

Solche Sätze vermochte ich als damals elfjähriger, Schildchen klebender Schüler natürlich noch nicht zu beurteilen. Heute weiß ich: das Abstimmungsergebnis hat die deutsch-französische Verständigung und die europäische Integration Deutschlands nicht verhindert. Im Gegenteil: es wurde zum Beginn einer wunderbaren deutsch-französischen Freundschaft.

Heute weiß ich auch: Kirche und ihre Pfarrerinnen und Pfarrer können und dürfen sich auch in politische Fragen einmischen, aber sich dabei nicht als Hüter des reinen Glaubens und besseren Wissens aufspielen. Es reicht, einfach am demokratischen Recht der freien Meinungsäußerung teilzunehmen. Wie alle anderen auch. Genau das habe ich damals als Elfjähriger unbewusst getan.