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Grenzräume

(Sprecherin: Bärbel Jenner)

Es ist fast vierzig Jahre her, dass ich mich nach dem Abitur für einen Studienort entscheiden musste. Die Wahl habe ich mit dem Finger auf der Landkarte getroffen. Was mich an Saarbrücken gereizt hat? Dass die Stadt an einer Grenze liegt. Auch heute noch fasziniert mich dieser Grenzraum. Eine weitere Sprache zur Verfügung zu haben, aber auch jederzeit die Wahl zu haben zwischen Saarlandmuseum und Centre Pompidou, zwischen Edeka und Cora, zwischen Vollkornbrot und Baguette: Das ist ein kleines, aber unbezahlbares Privileg.

Die Grenze: Sie ist ein ambivalenter Ort. In friedlichen Zeiten wird das Pendeln zwischen den Welten zur Lebensart, da werden Grenzsteine zu Kunstobjekten, da genießen die Menschen die Begegnung und die Verschmelzung von Kulturen und Sprachen. Das ist die schöne, die spielerische Seite von Vielfalt und Grenzgängertum.

Grenzen sind aber auch Orte der Verunsicherung. Auf der Grenze ist nichts mehr eindeutig und unhinterfragbar. Wie über Migration geredet wird, offenbart eine solche Verunsicherung. Da sind die Grenzen fließend zwischen dem Feiern der Vielfalt und der Abwertung anderer Lebensweisen. Und wie war das zu Beginn der Corona-Pandemie? Reflexhaft sind die Grenzmauern höher gezogen geworden. Erschreckend, wie tief die Verunsicherung im Grenzraum noch immer sitzt.

Grenzräume – physische und gedankliche – können beides sein: Orte der Öffnung und Orte der Abgrenzung. Für den Theologen und Philosophen Paul Tillich, der unfreiwillig zum Grenzgänger wurde, als er unter den Nationalsozialisten nach Amerika emigrieren musste, war der Begriff der Grenze ein wichtiges Symbol. Das Dasein auf der Grenze hat er als inspirierend empfunden. Für Paul Tillich war die Grenze „der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis“. Hier kann man experimentieren und lernen. Hier kann man sich im besten Sinne verunsichern lassen und Neues ausprobieren. Ein solcher Ort ist auch der Grenzbereich zwischen Glauben und Wissen, zwischen Jenseitshoffnung und Zweifel. Ein Grenzbereich, der so viel fruchtbarer ist als jeder dogmatische Glaube.

„Das Dasein auf der Grenze, die Grenzsituation, ist voller Spannung und Bewegung“, hat Paul Tillich gesagt. „Sie ist in Wirklichkeit kein Stehen, sondern ein Überschreiten, ein Zurückkehren, ein Wiederzurückkehren, ein Wiederüberschreiten, ein Hin und Her, dessen Ziel es ist, ein Drittes, jenseits der begrenzten Gebiete zu schaffen, etwas, auf dem man für eine Zeit stehen kann, ohne in einem fest Begrenzten eingeschlossen zu sein.“

Ich verstehe diese Sätze als Ermutigung, mich bewusst hineinzuwagen in den Raum der Verunsicherung. Genau dieser verdächtige Grenzraum, in dem nichts mehr gewiss ist, kann dann der Ort der Verständigung werden, ein dritter Ort, der Neues ermöglicht. Und ein Ort, an dem Spannungen und Uneindeutigkeiten bestehen dürfen. Gerade in unserer heutigen Welt ist das wichtig: Denn Uneindeutigkeiten sind nun mal Kennzeichen moderner Gesellschaften. Sie lassen sich nicht einfach auflösen. Aber man kann lernen, sie besser auszuhalten.

Das Leben in Grenzräumen ist oft genug anstrengend und unbequem: so wie der Platz „zwischen Baum und Borke“. Aber genau dort fließt der Saft! Ein Platz also, an dem sich durchaus leben lässt. Vielleicht gelingt dann auch ein weiterer Schritt: die Verunsicherung nicht nur auszuhalten, sondern ihr sogar Freude abzugewinnen. Das ist gar nicht so einfach und muss gelernt werden. Christa Wolf, die Schriftstellerin, hat das einmal so ausgedrückt: „Freude aus Verunsicherung ziehen – wer hat uns das je beigebracht?“

Ich jedenfalls lebe noch immer gerne in diesem inspirierenden Grenzraum an Saar und Blies. Und wenn es um Religion geht, bleibe ich gerne eine Grenzgängerin, die mehr Fragen als Antworten hat. Denn auch ich habe die Erfahrung gemacht: Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis.