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Gottesdienst für „Unbedachte“

Viermal im Jahr wird in einer der schönsten Kirchen meiner Stadt ein Gottesdienst
für „Unbedachte“ gefeiert, immer samstags zur besten Marktzeit. Der
Bürgermeister der Stadt und Pfarrer verschiedener Konfessionen laden gemeinsam
öffentlich dazu ein, an die Verstorbenen zu denken, die im vergangenen Vierteljahr
mit einem sogenannten Sozialbegräbnis bestattet wurden – sozusagen sang- und
klanglos, denn mit Steuergeld soll schließlich sparsam umgegangen werden.
Immerhin: Viermal im Jahr eine besonders schöne gottesdienstliche Feier für die
„Unbedachten“ – mit Musik, mit Blumen, mit Reden und mit großer öffentlicher
Anteilnahme, wie sie wohl keiner der „Unbedachten“ zeitlebens erfahren hat.

Der Ausdruck „unbedacht“ ist mindestens doppelsinnig. Nimmt man ihn wörtlich,
dann sind damit Menschen gemeint, die „kein Dach über dem Kopf“ hatten – also
Menschen ohne Wohnung: die Obdachlosen halt. Und genau sie sind hier gemeint.
Eine andere Bedeutung von „unbedacht“ ist aber auch : „ohne Sinn und Verstand“.
Gemeint sind dann Menschen, die irgendwie leichtsinnig gelebt haben. Sie sind
vielleicht ohne zu überlegen ins Unglück geraten. Vielleicht sogar ohne ihr Zutun,
ganz einfach aus der Bahn geraten durch Schicksalsschläge, denen sie nicht
gewachsen waren. Wer weiß das schon!?
Das Eine aber kann man wissen: Wer als Obdachloser gestorben ist, der wird in der
Regel auch sang- und klanglos aus der Gesellschaft verabschiedet, dem wird keine
Träne nachgeweint und dem wird öffentlich keine „Leichenrede“ gehalten. Der
gehört auch in diesem letzten Sinne zu den „Unbedachten“.

Viermal im Jahr also versammelt sich gerade ihretwegen eine zahlreiche und
buntgemischte Gemeinde. Wenn ihre Namen verlesen werden, herrscht andächtigeStille. Und die kann dauern, zumal nach jedem Namen eine Kerze im Altarraum
entzündet wird. Mehr nicht. Für keinen der „Unbedachten“ wird eine Rede gehalten.
Wie sollte das auch gehen bei den vielen Namen und Schicksalen!? Wohl aber
predigt der Pfarrer für alle, für die „Unbedachten“ sowohl, als auch für die
„Bedachten“ in den Bänken.

Ich finde es gut, dass es in meiner Stadt diese Gottesdienste für „Unbedachte“ gibt.
Natürlich wäre es besser, es brauchte sie erst gar nicht zu geben. Doch die
Wirklichkeit folgt nicht bloßen Wünschen. Aber sind sie nicht im Grunde
Gottesdienste für „jedermann“!? Die große Beteiligung an ihnen spricht dafür, dass
sie vielen Menschen einfach guttun. Aber warum eigentlich?

Ich denke an ein Gedicht von Kurt Marti. Als Pfarrer hat er viele Menschen in
seiner Heimatstadt Bern beerdigt. Als Schriftsteller hat er seine Erfahrungen dabei
in Gedichte gefasst. Er hat sie „Leichenreden“ genannt. In einer von ihnen heißt es:

welche wohltat einmal auch sagen zu dürfen:
nein er war nicht tüchtig
und wechselte oft die stelle
nein er war nicht fleißig
und arbeitete nur
sofern es nicht anders ging

welche wohltat
in einer welt
die vor tüchtigkeiten
aus den fugen gerät:
ein mann der sich gute tage
zu machen wussteehe nach einigen bösen
jetzt
der letzte tag für ihn kam. (1)

Der Schriftsteller Peter Bichsel hat zu den „Leichenreden“ seines Freundes Kurt
Marti geschrieben:
„Welche Wohltat / einmal auch sagen zu dürfen: / nein er war nicht tüchtig …“, da
atmet nicht nur ein lügengeplagter Pfarrer auf, sondern eine lügengeplagte Sprache:
Klartext – Tod, das gibt es. (2)

Vielleicht ist es ja gerade der „Klartext“, wie Peter Bichsel das nennt, also diese
ungeschminkte Sprache, die so viele Menschen im Gottesdienst für „Unbedachte“
besonders anspricht. Hier jedenfalls wird nicht geschönt. Hier atmen wir auf , und
ahnen: es ist nicht unser Verdienst, wenn wir nicht zu den „Unbedachten“ gehören.