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Goldene Mitte

Ich mache einen Abendspaziergang durch meine Straße. Nach der Hitze des Tages genieße ich die kühlere Temperatur. Im Vorübergehen streift mein Blick über Vorgärten und Einfahrten. Ich sehe Kinderspielzeug, das auf Rasen und Gehwegplatten verstreut ist, mit Unkraut überwucherte Blumenbeete, und Rosen, die sich an Hauswänden hochranken. Jeder Garten ist angelegt nach dem Geschmack und den Möglichkeiten der Besitzer. Ich muss schmunzeln über die Vielfalt und Eigenwilligkeit. Ein paar Häuser weiter sehe ich eine Kiesfläche, exakt geteilt in eine Hälfte mit weißen Kieseln und eine mit schwarzen Kieseln. Mittendrin ein kleiner einzelner Baum. Ein paar Schritte weiter komme ich an den Spielplatz. Ich setze mich auf die kleine Bank, die dort steht und komme ins Nachdenken. Bei allen Übereinstimmungen bleibt eine große Vielfalt von Haus zu Haus. Vielfalt, in der sich auch die Unterschiedlichkeit der Gärtnerinnen und Gärtner  zeigt. Falls Sie, liebe Hörer, einen Spaziergang durch Ihre Wohngegend machen würden, erginge es Ihnen wohl ähnlich. Und sollten sie keinen Garten haben, gleiches gilt sicher auch für die Blumen am  Fenster.

Überall spiegelt sich in dem, was wir gestalten und wie wir leben wider, wer wir sind. Wir sind alle Menschen  mit den gleichen Grundbedürfnissen und zugleich absolut unterschiedlich, ja einmalig. Das Beständige mischt sich mit dem Beweglichen. Beides zusammen macht Leben aus. Überwiegt das Beständige, wirkt es schnell eng, bestimmend oder ausschließend. „Nein, in meinen Garten kommen nur heimische Pflanzen!“ Überwiegt die Bewegung, fehlt oft die Wertschätzung und die Bewahrung von Bewährtem. „Immer etwas Neues!“ lässt keine Ruhe  und Stabilität zu.

Gibt es eine goldene Mitte?

Ich glaube ja! Lassen Sie mich dazu von einer kleinen Randbemerkung zum Alten Testament erzählen. Die Notiz wird Moshe ben Maimon, genannt Maimonides, zugeschrieben. Er war einer der großen Rabbiner des Mittelalters und schon ab dem 12. Jahrhundert wurden seine Bemerkungen gesammelt. Im Text der Bibel heißt es: „Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs!“ Dazu schreibt Maimonides: „Warum wird  hier  zu jedem der Väter der Name Gottes genannt? Hätte es nicht heißen können: der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs? Warum wird neben jedem Namen der Name Gottes geführt? Deshalb: Weil Gott jedem Mensch auf seine Art zu eigen ist. Eines Tages, wenn ich vor Gott stehe, dann wird er mich nicht fragen: Warum bist du nicht Abraham gewesen oder warum bist du nicht Isaak gewesen? Sondern er wird mich fragen, warum bist du nicht Moshe ben Maimon gewesen?

In diesen Worten scheint mir die goldene Mitte beschrieben. Die Möglichkeit, ausgeglichen zwischen Bestehendem und Neuem zu leben. Sie ist dann gegeben, wenn wir ausgerichtet auf Gott sind. Anders gesagt: Wenn wir im Bewusstsein leben, das Gott uns liebt, dann sind wir zugleich eingeladen, ganz wir selbst zu sein. Unterschiedlich, eigen, frei und z u g l e i c h verbunden. Wenn ich mal wieder mitten drin stecke in der Arbeit an mir selber; wenn ich mich bewerte; versuche, mich zu verbessern und es anderen nachzumachen – dann erinnere ich mich manchmal an die Worte von Maimonides und ich frage mich:  „Warum bist du nicht einfach Volker? Warum willst du jemand anders sein? Vertrau Gott und dann auch dir!“

Genau dieses Vertrauen wünsche ich uns allen!