Beiträge

Gnadenlos

Vielleicht sterben manche Worte nur deswegen nicht aus, weil ihre Verneinung weiterlebt. Das Wort „Gnade“ ist so ein Begriff.

Wo spricht man denn im Alltag heute noch von Gnade? Längst vorbei sind Zeiten, in denen jemand als ‚gnädiger Herr‘ oder ‚gnädige Dame‘ angesprochen wurde. Und welcher Geschädigte würde heute noch dem Motto folgen: „Gnade vor Recht“? ‚Gnadenlosigkeit‘ bewertet man dagegen positiv. Man findet et­was oder jemanden gnadenlos gut. ‚Keine Gnade‘ zu kennen, gilt als Zeichen der Stärke.

Die Sprache und das Empfinden einer Zeit hängen eng zusam­men. Darum läuft es mir manchmal kalt den Rücken herun­ter, wenn ich in Leserbriefen oder Kommentaren spüre, welche Gna­denlosigkeit in Forderungen wie „Wegsperren“, „fristlos entlas­sen“, „setzen-sechs“ oder gar „entsorgen“ zum Ausdruck kommt.

Mir scheint, dass unserer Gesellschaft das Wort ‚Gnade‘ abhan­denkommt, vielleicht, weil ihr das Gefühl für Gnade verloren geht. Oder besser: weil ihr das Gefühl von Gnade fremd wird. Italiener oder Spanier haben es da etwas leichter. Grazie oder Gracias sagen sie, um sich zu bedanken. Das Wort „Danke“ hat in ihren Sprachen die gleiche Wurzel wie das Wort „Gnade“. So kann man gleich spüren, dass Gnade gewähren und Gnade emp­fangen zusammengehören. Grazie oder Gracias ist geben und nehmen.

Das heißt: Wenn ich Fünfe gerade sein lasse, wenn ich von mei­nem Schuldner nicht das volle Programm der Entschädi­gung er­warte, dann verzichte ich nicht so sehr auf etwas, was mir zusteht, sondern ich gebe vielmehr etwas weiter, was ich selbst an anderer Stelle geschenkt bekommen habe.

Ich hoffe, dass das Wort „Gnade“ nicht ganz ausstirbt. Wer gnädig sein kann, der spürt und weiß: Nichts von dem, was er als Mensch auf Erden hat und genießen darf ist ihm geschuldet. Alles ist frei geschenkt. Mille grazie! Danke, Gott!