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Gesegnet

Endlich raus hier. Ich atme tief durch, es ist geschafft, ja, ich habe die Prüfung bestanden. Lange habe ich gelernt, mich abfragen lassen, habe gebangt und gehofft, ich kann es noch gar nicht fassen, bin hin und her gerissen zwischen totaler Euphorie und absoluter Müdigkeit. Jetzt stehe ich am Bahnhof, gleich kommt mein Zug, jetzt darf ich wieder nach Hause, Heilig Abend mit der Familie feiern, verändert und froh. Ich kaufe mir noch schnell ein Brötchen, jetzt schmeckt es wieder.

Als ich am Gleis bin, sehe ich, wie sie langsam auf mich zukommt. Sie ist klein, schlecht gekleidet, ungepflegt. Ich gucke an mir herab – schicker Hosenanzug, neue Schuhe – und beiße noch einmal in mein Brötchen. Die Frau versucht es erst woanders und hat keinen Erfolg. Sie geht gebückt. Ich merke, wie sie mich anschaut, wie sie entschlossen ist, auf mich zuzukommen. Dann steht sie vor mir, schaut mir direkt in die Augen: „Hätten Sie etwas Geld für mich, ich lebe auf der Straße?“ Ihr Blick trifft mich, er ist stark, ihre Stimme ist dunkel und ernst. „Ja… natürlich“, sage ich unsicher und gebe ihr Geld. Wenn ich heute Glück hatte, dann soll sie es auch haben, denke ich und gucke sie an. Sie kommt näher und ihr Blick ändert sich, sie lächelt sanft und sagt mit fester und ganz ehrlicher Stimme: „Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass Gott sie segnet, er schenke Ihnen vor allen Dingen Gesundheit und Freude im Leben. Und er bewahre sie vor dem, was ich erleben musste. Gute Reise!“ Ich bin sprachlos, sage noch schnell: „Vielen Dank, das wünsche ich Ihnen auch“, doch da ist die Frau schon weg. Ich spüre noch lange die Kraft ihres Blickes und ihrer Worte, sie hat es ernst gemeint, sie hat mich gesegnet. Sie, die mir so schwach und hilfsbedürftig vorgekommen ist.

Als mein Zug hält, steige ich ein. Das, was ich da gerade erlebt habe, ist so kostbar, denke ich. Der Zug fährt los, nimmt immer mehr Geschwindigkeit auf, die Lichter der Weihnachtsdeko der Stadt fliegen an mir vorbei.  Ich habe das Gefühl, dass dieser Jesus, dieses schwache, hilfsbedürftige Kind, geboren in aller Not, mich heute ganz unerwartet besucht hat. Mit all seiner Aufmerksamkeit, seiner Kraft und seiner Liebe. Viel wertvoller als die bestandere Prüfung.