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Gedanken zur Karwoche – Zeugnis des Leidens

Jörg Metzinger liest 1997 verfasste, fiktive Briefe von Michael Kluck an biblische Personen aus dem Umfeld Jesu

Michael Kluck: Ev. Beauftragter beim SR 1992 – 2004, gestorben am 26. Oktober 2005

 

Montag, 3. April 2023: An die Frau, die in Betanien Jesus gesalbt hat

Liebe Unbekannte,

die wir gewohnt sind, „die Sünderin“ zu nennen, und die oft für Maria aus Magdala gehalten wird.

Wie kennen dich aus einer Geschichte, die schnell erzählt ist: Jesus ist in Betanien Gast im Haus eines reichen und frommen Mannes. Du hast davon gehört, kommst in dieses Haus, zerbrichst ein Glas mit kostbarem Duftöl und gießt das Öl. Jesus über den Kopf. Erzählt wird deine Geschichte in allen vier Evangelien – was selten ist. Erzählt wird sie freilich mit entscheidenden Unterschieden im Detail.

Markus und Matthäus berichten die Fakten, die ich kurz zusammengefasst habe. Bei Lukas ist davon die Rede, du seist eine stadtbekannte Sünderin gewesen. Und bei Johannes schließlich bist du Maria, die Schwester der Martha und das Lazarus. Und diese Maria wiederum hat man später mit Maria aus Magdalena identifiziert, die Jesus wohl besonders liebgehabt hat.

Aber du bleibst „die Unbekannte aus Bethanien“. Bei Markus und Matthäus bist du eine Frau, über die wir nichts weiter erfahren. Schon bei Lukas setzt die Spekulation ein, die aus dir eine Sünderin, schließlich eine Prostituierte werden lässt. Das Parfum, das du Jesus über den Kopf geschüttet hast, hat uns Männern die Sinne betäubt und die Fantasie überschäumen lassen. Unterdrückte Sinnlichkeit hat sich Bahn gemacht in Legenden, von der Hure Maria Magdalena, die Jesus am Herzen lag.

Du aber bist nicht Maria Magdalena und die wiederum war keine Hure. Ob du eine größere Sünderin warst, als wir alle sind – egal ob Männer oder Frauen -, das erfahren wir ebenfalls nicht. Doch das, was wir von dir erfahren, das ist schön und sinnlich genug: Du verschwändest ein Vermögen an diesem Jesus von Nazareth. Und du tust etwas, was jenseits aller Vernunft ist. Kostbares Duftöl schüttest du über seinen Kopf. Der Jahres Lohn eines Arbeiters – verschwendet in wenigen Sekunden.

Kein Wunder, dass die Leute – auch die Jünger Jesu – über dich murren. Was hätte man mit dem Geld nicht Gutes tun können? Doch diesen Gedanken, verehrte Unbekannte, verfolge ich nicht weiter. Es ist ein männlicher Gedanke, der der Vernunft zu sehr die Ehre gibt. Du widersprichst der Vernunft und setzt die Liebe, die Sinnlichkeit ins Recht. Kein Wunder, dass Männer dich zur Sünderin stempeln wollten. Denn wir Männer lieben die Sinnlichkeit wohl, aber wir haben auch Angst vor ihr und wollen sie durch die Vernunft zähmen.

Jesus zähmt die Sinnlichkeit nicht, er freut sich an ihr. Oder sollte ich genauer sagen: Er freut sich an dir?! Er lässt sich deine Liebe gefallen, er freut sich. Und das gerade, weil er weiß, was ihm bevorsteht. Er wird leiden und sterben, er ist einsam und allein. Du aber durchbrichst alle Schranken berührst ihn, tust ihm etwas Gutes.

In dein Handeln haben Männer später viel hineingedeutet – Richtiges und Falsches.

Sie haben gesagt, dass du Jesus zum König gesalbt hast. In der Tat: Der König wurde mit kostbarem Öl gesalbt, um in sein Amt eingesetzt zu werden.

Sie haben gesagt, dass du seinen Tod angekündigt hättest. In der Tat: Die Toten wurden mit kostbarem Öl gesalbt, um sie ein letztes Mal zu ehren.

Und sie haben gesagt, dass du seine Auferstehung vorweggenommen hättest. In der Tat: Nicht Leichengeruch, sondern der Wohlgeruch des Reiches Gottes regiert die Geschichte des Jesus von Nazareth.

Wie gesagt, das sind schöne, geistreiche Deutungen deiner Salbung. Sie haben im Nachhinein sicher ihr Recht. Doch mir ist die Erzählung von deinem Handeln so lieb und wichtig, weil du wagst, was mir so schwerfällt: Du durchbrichst alle Schranken gesellschaftlicher Konvention und tust ihm etwas Gutes. Du bist ihm nahe – mit Herzen, Mund und Händen.

Und Jesus lässt sich das gefallen. Er lobt dich, er gewinnt Kraft durch deine Liebe. Er geht seinen Weg ans Kreuz, auf diesem Weg durch den Leichengeruch begleitet von dem Wohlgeruch, den du ihm geschenkt hast.

 

Dienstag, 4. April 2023: An die Volksmenge von Jerusalem

Volk von Jerusalem,

oder sollte ich besser schreiben: Volksmenge, Pöbel, Mob jeder Stadt und jeden Landes seit Beginn der Geschichte? Denn was damals geschah in eurer Stadt, das war ja durchaus beispielhaft für etwas, was Land auf Land ab geschieht, und zwar tagein tagaus.

Doch damit ich nicht zu sehr ins Allgemeine gerate, das ich an dir Volk von Jerusalem doch demonstrieren will, rede ich zunächst von dir und dem, was in jenen Tagen geschah.

Der Wanderprediger aus Nazareth kam in die Stadt. Eine Sensation. Grund dazu, von allen Seiten herbeizulaufen. Grund dazu, dem Mann zuzujubeln, Zweige von den Bäumen zu hauen, Kleider auf dem Boden auszubreiten, Jubellieder anzustimmen. Der Einzug auf dem Esel wird zum Triumphzug. Denn du liebst Sensationen, Volk von Jerusalem.

Einige Tage später: Man hat ihn verhaftet, führt ihn vor, sitzt zu Gericht über ihn. Auch gut! Hauptsache, eine Sensation. Grund dazu, von allen Seiten herbeizulaufen. Grund dazu, den Mann auszubuhen, Äste abzuschneiden, zuzuschlagen. Hasstiraden anzustimmen. Der Prozess vor dem Prokurator wir zum Schauprozess. Denn du liebst Sensationen, Volk von Jerusalem.

Ich muss dir gestehen, Volk von Jerusalem, dass wenig anders und schon gar nichts besser geworden ist seit damals, als du erst „Hosianna“ schriest und dann „Kreuzigt ihn“. Sensationen sind immer noch beliebt, wir haben die Mittel, sie zu verbreiten, noch verfeinert. Jeder und jede kann die Sensationen mitverfolgen, in allen Formen, die man sich vorstellen kann. Wir sind so leicht zu manipulieren wie du damals, Volk von Jerusalem. Heute schreien wir so, morgen anders. Es gibt einige, die uns ein flüstern, was wir schreien sollen. Und wir schwatzen es nach, laut und leise, flüsternd und schreiend. Und wir sind uns so sicher, im Recht zu sein.

Ich möchte nicht mitschreien, Volk von Jerusalem. Selbst wenn ich meine, im Recht zu sein. Der, dem ihr zugejubelt habt den; der, den ihr ausgebuht habt – er hat nie mitgeschrien mit der Menge. Er hat allein geschrien, nicht gegen jemanden geschrien, sondern für uns alle. Er hat hinausgeschrien, was dich, Volk von Jerusalem, und was uns schreien lässt: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen!“

Verborgen hinter den Schreien „Hosianna“ und „Kreuzigt ihn“, hinter den Jubelgesängen und Hasstiraden ist der Schrei „Gott, warum lässt du uns allein!“ Jesus schreit ihn. Er schreit: „Mein Gott!“ Er brüllt niemanden nieder, er ruft um Hilfe, ihn, der uns retten kann.

Das ist die Sensation, auf die wir gewartet haben: Der Umschwung der Geschichte. Der neue Anfang! Die Wende! Sie ist geschehen, damals in Jerusalem. Du warst dabei, Volk von Jerusalem.

 

Mittwoch, 5. April 2023: An den Statthalter seiner Majestät des römischen Kaisers in Palästina, Prokurator Pontius Pilatus, Burg Antonia, Jerusalem

Hochzuverehrender Prokurator,

gestattet, dass ich eure Exzellenz mit diesem Schreiben behellige. Es geht um den Prozess, den ihr vor nunmehr fast 2000 Jahren gegen einen gewissen Jesus von Nazareth geführt habt. Ich vermute, ihr erinnert euch, trotz der vielen Jahre, die seitdem vergangen sind. Ihr wisst sicher, dass dieser Jesus Christus, wie wir ihn heute nennen, zum Begründer einer Weltreligion geworden ist. Sie hat das römische Reich, dem ihr dientet, seit langem abgelöst. Seine Anhänger nennen sich Christen. Ich bin einer dieser Christen und habe daher einige Fragen an euch.

Meine erste Frage: Ihr habt über den Mann, den ihr verurteiltet, gesagt: „Seht den Menschen!“ Was heißt das? Nur ein Mensch?! Oder: Der Mensch schlechthin?! Ich verstehe nicht, ob euer Satz ein Satz tiefer Weisheit ist – oder der Versuch, diesen Jesus dem Volk als harmlosen Irren darzustellen. „Nur ein Mensch.“ Das würde bedeuten: Macht nicht so viel Wirbel um diesen Mann. Er ist doch nur ein Mensch wie andere Menschen auch!

„Der Mensch schlechthin.“ Das hieße: So ist der Mensch eben, der Macht und dem Pöbel ausgeliefert. Dieser Jesus steht stellvertretend da für alle Menschen, für ihr Leid und auch für ihre Würde.

Ich verstehe euren Satz nicht, Exzellenz.

Meine zweite Frage: Ihr habt Jesus gefragt: Was ist Wahrheit? Wolltet ihr eine philosophische Diskussion mit eurem Gefangenen führen? Wolltet ihr es wirklich wissen? Oder war eure Frage die spöttische Frage eines Zynikers: Was ist schon Wahrheit? Der Mann, den ihr habt kreuzigen lassen, hat von sich selbst gesagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“

Derselbe Mann, der eure Frage überliefert hat, Johannes, hat auch diesen Satz Jesu überliefert. Euch hätte, wie ich vermute, diese Antwort noch mehr verwundert. Die Wahrheit – eine Person? Nicht ein System von klugen, durchdachten philosophischen Sätzen! Nicht klare Fakten, die es einem klugen Mann wie euch ermöglichen, sein politisches Handeln daran auszurichten! Sondern: Die Wahrheit ist dieser arme, gefesselte Mann, den sie vor euch als den Richter geführt haben.

Meine dritte Frage: Ihr habt Jesus, wie berichtet wird, nicht gern verurteilt. Ihr habt vielmehr eure Hände in Unschuld gewaschen, die Schuld an seinem Tod abschieben wollen. Warum habt ihr ihn trotzdem verurteilt? Weil die Priester euch sonst beim Kaiser angeschwärzt hätten? Eure Frau hat einen ängstlichen Traum gehabt. Sie hat euch beschwören, den Mann nicht zu verurteilen. Ihr aber habt nicht auf sie gehört. Wir Männer hören nicht auf die Träume unserer Frauen, dazu sind wir – wie wir meinen – zu rational. Wir hören auf die Vernunft, nicht auf die Träume. Die Staatsräson erscheint uns wichtiger als Gefühle. Warum habt ihr Jesus verurteilt, trotz eurer Bedenken? Ihr wart ein schlechter, ein ungerechter Richter! „In dubio pro reo“, im Zweifel für den Angeklagten. So heißt es doch in eurer klaren, schlichten Rechtssprache, Herr Prokurator!

Ihr wart ein schlechter ungerechter Richter. Die Wahrheit war euch egal, was mit Menschen geschah, gleichgültig. So wird man was in einem Weltreich. Ihr hattet die Macht. Es wird euch wundern, wenn ich euch trotzdem sage: Ihr wart nur ein Werkzeug! Nicht in der Hand des Kaisers und des Hohenpriesters. Nicht in der Hand des Volkes. Ihr wart ein Werkzeug in der Hand eures Gefangenen. Ihr habt das, wohl ohne es zu wollen, selbst dokumentiert. An sein Kreuz habt ihr in drei Sprachen die Aufschrift heften lassen: „Jesus von Nazareth, der König der Juden.“ Spott sollte das sein, Spott für die Juden und für den Gekreuzigten. Aber mit dieser Inschrift habt ihr die Wahrheit ausgesprochen, die euch doch so gleichgültig war.

Ja, euer Gefangener hat euch zum Werkzeug gemacht. Er hat sich von euch verurteilen lassen, damit deutlich wird: Er nimmt das Urteil auf sich. Er trägt ans Kreuz, was wir Menschen zu tragen hätten. Er nimmt alles auf sich, was uns belastet und trägt es davon. Das ist die Wahrheit, die ihr ausgesprochen habt, als ihr sagtet: „Seht, den Menschen!“ Ihr wart ein ungerechter feiger Richter. Aber ihr wart auch das Werkzeug in seiner Hand – und das hat euren Namen unsterblich gemacht.

 

Donnerstag, 6. April 2023: An Judas Iskariot, den Freund und Jünger Jesu, der ihn verriet

Lieber Judas,

schon meine Anrede wird dich verwundern. Wie kann ich den Verräter „Lieber Judas“ nennen? Nun, Jesus selbst nennt dich „Freund“, als du kommst, um ihn zu verraten. Und er tut das nicht in Unkenntnis dessen, was du vorhast. Du bist sein Freund geblieben, trotz des Verrates.

In der Geschichte Jesu hast du von allen seinen Freunden die undankbarste Rolle. Gewiss: Petrus verleugnet ihn, und die anderen Jünger laufen davon. Doch Feigheit verzeiht das Publikum, wohl, weil es selbst nicht besonders mutig ist. Verrat aber gilt als unverzeihlich, noch dazu, wenn er für Geld geschickt.

Die Dreißig Silberlinge sind sprichwörtlich geworden. Fast so sprichwörtlich wie du selbst, lieber Judas. Dabei haben die meisten Judasse der Weltgeschichte viel mehr kassiert als du. So geschäftstüchtig und geldgierig, wie man es dir nachgesagt hat, kannst du kaum gewesen sein. Dein Verrat brachte den Kaufpreis eines Ackers ein, mehr nicht.

Doch dein Name wurde zum Synonym für Verräter. Dir konnte man alles Böse aufladen: Geiz, Geldgier Unzucht, Verrat. Und da du ja tot warst, luden die Christen es dem Volk auf, dessen Namen du trugst: den Juden. Sie vergaßen, dass Jesus und seine Jünger auch Juden waren. Sie vergaßen das alles, was Jesus oder seine Jünger gegen Juden gesagt haben mögen, nicht gegen ein fremdes Volk gerichtet war, sondern sich an Angehörige des eigenen Volkes richtete. Wo Jesus also gegen Juden stritt, da war es sozusagen ein Familienstreit.

Doch zurück zu dir, Judas. Manchmal denke ich, dass das Unrecht, dass wir Christen deinem Volk angetan haben, mit dem Unrecht beginnt, das wir dir antaten. Denn dein Verrat, so unentschuldbar er ist, war notwendig, damit Gottes Plan aufging. Jesus sagt ja: „Es muss geschehen, aber wehe dem, durch den es geschieht.“

Dein Verrat, lieber Judas, ist weder zu erklären noch zu entschuldigen. Ich vermute, dass die Unrecht haben, die sagen: Judas hat Jesus nur verraten, damit Gottes Plan erfüllt wurde. Sie unterstellen, dass du den Plan kanntest. Dafür spricht aber kein Wort in der Passionsgeschichte. Und dagegen spricht, dass du dich vor Schmerz über die Verurteilung Jesu erhängt hast, noch ehe sie ihn ans Kreuz schlugen. Ich vermute, du hast ihn geliebt und trotzdem verraten.

Warum? Das weiß ich nicht. Ich weiß nur: Jesus hat dich seinen Freund genannt. Jesus hat dich an seinem Tisch geduldet, als er mit seinen Freunden das Passah-Mahl feierte und das Abendmahl einsetzte. Du bist nicht der Ausgestoßene, zu dem dich wir Christen gemacht haben. Du gehörst zu uns, Bruder Judas.

Deine Freunde haben das gewusst. Als Jesus deinen Verrat ankündigt, sagen Sie nicht selbstsicher: Jeder, aber nicht ich! Sie fragen alle: Bin ich’s? Was doch wohl bedeutet: Jeder hätte es sein können.

Lieber Judas,

du bleibst mir ein Rätsel. Doch dieses Rätsel ist nicht ein Rätsel, das ich mir von außen mehr oder weniger distanziert anschauen könnte. Solange ich dich als Projektionsfläche nehme für alles Böse, ist das Rätsel zwar interessant, aber weit weg. Solange du der Böse bist, bin ich zumindest halbwegs in Ordnung. Doch nun gilt ja: Jeder hätte der Verräter sein können. Du bleibst mir ein Rätsel, weil ich mir selbst ein Rätsel bin.

Lösen kann das Rätsel nur der, der zu dir und mir sagt: Mein Freund!

 

Samstag, 8. April 2023:  An den Hauptmann des Hinrichtungskommandos, das Jesus von Nazareth, genannt König der Juden, auf Golgotha bei Jerusalem zu Tode gebracht

Sehr geehrter Herr Hauptmann,

über Sie wissen wir fast nichts. Nur die Tatsache, dass Sie das Hinrichtungskommando befehligt haben, das den Rabbi von Nazareth zu Tode brachte. Und dass Sie nach seinem Tod – noch unter dem Kreuz – gesagt haben: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“

Wir wissen fast nichts über Sie, das macht es mit möglich, meine Phantasie spielen zu lassen. Sicher kamen Sie nicht aus dem religiös aufgeheizten Orient, sondern vielleicht aus dem kühleren, nüchternen Norden des Römischen Weltreichs, den Wäldern Germaniens oder Galliens. Und nun abkommandiert nach Palästina – zu den Juden, die nur einen Gott verehrten. Nicht die bunte Götterschar Roms oder Athens zählte für dieses Volk, sondern nur der eine Gott, von dem erzählt wurde, er habe das Volk aus der Sklaverei befreit.

Ich stelle mir vor, dass sie das zunächst gewundert hat. Ein einziger Gott, noch dazu ein Gott, von dem es keine Bilder gab, sondern nur Worte. Ein Gott, der sich zwar Opfer darbringen ließ, dessen Anhänger aber die Worte, die von ihm überliefert wurden, wichtiger nahmen als den Kult. Das hat Sie, so vermute ich, zunächst verwundert und dann neugierig gemacht.

Sie werden, so spekuliere ich weiter, versucht haben, etwas über diesen merkwürdigen Glauben herauszufinden. Das war nicht einfach, weil sie für die Rabbiner und Schriftgelehrten als Besatzer natürlich ein Feind waren, dazu noch gottlos. Aber es hatte immer schon Leute aus anderen Völkern gegeben, die sich für den Gott der Juden interessierten. Die Schriftgelehrten missionierten nicht, aber den Dialog mit anderen Regionen haben sie auch nicht gescheut. Mag also sein, dass es Ihnen doch gelang, etwas mehr über den jüdischen Glauben zu erfahren.

Das Wichtigste am Glauben der Juden, so erfuhren Sie rasch, ist die Geschichte Gottes mit diesem Volk. Gewiss: Andere Völker kannten auch Geschichten über ihre Götter. Dieses Volk aber erzählte von der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Der Glaube an diesen Gott ist nicht ein Teil der Geschichte dieses Volkes, sondern die Voraussetzung dieser Geschichte. Andere Völker haben Götter, dieser Gott dagegen hat ein Volk.

Ich vermute, als Berufssoldat waren Sie vom jüdischen Glauben fasziniert, weil er Klarheit bot, nüchtern war und schlicht. Nicht eine Fülle von Mythen, sondern die Geschichte dieses Gottes mit diesem Volk. Eine Befreiungsgeschichte von Anfang an: Der Gott der Juden hatte sein Volk aus der Sklaverei in die Freiheit geführt. Und an diesen Gott der Freiheit hielten sie fest, selbst unter der römischen Besatzung

Und nun hatten Sie also einen dieser merkwürdigen Juden hinzurichten. Das Merkwürdige an ihm war: Er schien die Herrschaft des Todes zu leugnen. Ihre Soldaten konnten ihn ans Kreuz schlagen, festnageln. Sie konnten ihn nicht seiner Freiheit berauben. Mit dem Prokurator Pontius Pilatus, ihrem Vorgesetzten, redete er wie ein König mit einem Statthalter: höflich, mit Respekt vor dem Vertreter einer fremden Macht, aber auch mit dem Bewusstsein der eigenen Würde.

Auch der Spott Ihrer Soldaten, Herr Hauptmann, prallte an ihm ab. Sie krönten ihn mit Dornen und legten ihm einen roten Mantel um. Gerade das zeigte ihn als König, nicht als Opfer. Sie und Ihre Soldaten wurden seiner nicht Herr. Er blieb der Herr, selbst unter der Folter, selbst am Kreuz.

Ihre Soldaten waren wahrscheinlich zu abgestumpft, um das zu bemerken. Töten war ihr Handwerk, das rasch und geschickt ausübten. Doch Sie selbst, als Kommandant, hatten zuzuschauen, zu befehlen, Aufsicht zu führen. Da blieb Raum zum Nachdenken. Sie merkten: Über diesen Mann haben wir keine Macht. Selbst der Tod hat keine Macht über ihn. Er kann nur der Sohn dieses merkwürdigen Gottes der Juden sein, dieses Gottes, der aus der Sklaverei befreit, sogar aus der Sklaverei des Todes.

Da, wo Sie nun sind, verehrter Hauptmann, werden sich die merkwürdigen Rätsel um den Mann aus Nazareth und seinen befreienden Gott und Vater gelöst haben. Bis wir uns dort sehen grüßt Sie herzlich Ihr Michael Kluck.